Karin Jabs-Kiesler: Rede auf der Buchpremiere am 15. Mai 2001 zur Einführung in V. Issmers Band 'Fremde Zeit - Unsere Zeit'
Karin Jabs-Kiesler
Rede auf der Buchpremiere am 15. Mai 2001 zur Einführung in
Volker Issmer
FREMDE ZEIT – UNSERE ZEIT
Persönliche Anmerkungen zur Einführung
Sehr geehrter Herr Büngen! Lieber Heiko Schlatermund! Lieber Volker Issmer! Liebe Gäste!
Das Buch, um dessen Vorstellung es heute morgen geht, fordert uns schon vom Titel her in gewisser Weise heraus mit den vier Worten: „Fremde Zeit – Unsere Zeit“. Es stellt damit ja in aller Kürze und Prägnanz fest, dass die Vorgänge während des Krieges und auch noch in der Nachkriegszeit uns heute als sehr fremd und teilweise unvorstellbar erscheinen, dass sie uns aber nichtsdestotrotz etwas angehen, dass wir nicht achselzuckend oder gar ärgerlich darüber hinwegsehen können, so als sei dies alles längst „aufgearbeitet“. Die hier Versammelten wissen wohl, dass dies nicht so ist. Aber gilt dies auch allgemein und ist es nicht zunehmend eine Generationenfrage? Ich denke, dass gerade vor dem Hintergrund dieser Tatsache – die Zeitzeugen sterben aus, die Kinder der Täter und Mitläufer, d. h. der von der Nazidiktatur geprägten und verführten Generation, jene Kinder also, die kurz vor oder nach bzw. während des Krieges geboren wurden und die am meisten betroffen waren von dem Bild Deutschlands in der Welt nach den Gräueln der Nazis, sie befinden sich heute im Rentenalter und stellen bisweilen erschrocken fest, dass die Jüngeren an Mahnmalen und Zeugnissen aus jener „fremden“ Zeit weniger interessiert sind. Oder täusche ich mich da?
Vor wenigen Tagen wagte ich eine Art Test und fragte ganz unvermittelt in einem Gespräch, ob man sich noch an die Hohmann-Affäre erinnere. Allenfalls dunkel, man glaubte, den Namen schon einmal gehört zu haben, aber nichts Genaues. Dabei spielte sie im Jahre 2003 sogar indirekt hier in Osnabrück eine Rolle, als es um die Kosten für das Mahnmal in der Alten Synagogenstraße ging. Die Bereitschaft, dafür mehrheitlich eine größere Summe bereitzustellen, war zunächst sehr gering. Erst auf Grund der Vorgänge um den nordhessischen Bundestagsabgeordneten und dessen Ausschluss aus der CDU-Fraktion wurde die angedachte Summe nicht mehr in Frage gestellt.
Ich erwähne dies noch einmal, weil mir erst vor kurzem ein Zeitungsartikel in die Hände fiel, der im November 2003 die damaligen Vorgänge zum Anlass nahm, sich mit dem konservativen Diskurs auseinander zu setzen und mit dem immer wieder spürbaren Wunsch, die Sache endlich zu den Akten legen zu können. Es handelt sich um einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, verfasst von Thomas Schmid. Er trägt den Titel „Erst 58 Jahre“ und er betont im Untertitel: „Die Begegnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit hat noch gar nicht richtig begonnen. Rechts nicht – und links auch nicht.“ Diese Ausführungen machen für mich besonders einsichtig, warum der Stellenwert der Textsammlung von Volker Issmer so hoch und so aktuell ist. Denn als Autor dieser authentischen Erzählungen urteilt und verurteilt er nicht, sondern erzählt einfühlsam und lässt uns ein wenig begreifen, warum sich später so viele ihres Verhaltens schämten, so sehr, dass sie ihren Kindern ganz andere Geschichten erzählten und sich selbst etwas vormachten durch Leugnen, Verdrängen, Nicht-Wahrhaben-Wollen. Ich erinnere an die jüngst erschienenen Berichte über in der Gefangenschaft abgehörte Gespräche von deutschen Kriegsgefangenen.
Der Autor Thomas Schmid betont u. a., dass der Wunsch nach dem endgültigen Schlussstrich sich auch daraus erkläre, dass der Holocaust und andere Gräuel eben nicht in Kambodscha oder Ruanda stattfanden, sondern im Herzen des christlich-abendländischen Europas. Er sagt, „das bewältigt man nicht, das arbeitet man nicht auf“ und fügt hinzu, dass eine Zeitspanne von zwei Generationen bei weitem nicht ausreiche, um die Verbrechen der Nazidiktatur zu ermessen und eine angemessene Form der „Erinnerung, des Gedenkens, der Trauer um die Opfer“ zu finden. Im übrigen verweist er auf eine repräsentative Umfrage, deren Ergebnis verblüffend war: Danach waren sich 56 % der Befragten sicher, dass Eltern und Großeltern entschiedene Nazi-Gegner gewesen seien und das auch hätten erkennen lassen. Nur 3 % hätten von antijüdischen Haltungen gehört. Heute hören wir zunehmend von Dokumenten, die belegen, dass selbst namhafte Schriftsteller – ich erinnere an den Fall Luise Rinser - lebenslang darum bemüht waren, ihre Antihaltung gegen die Nazis unter Beweis zu stellen, vielleicht weil sie sich schämten, Opfer dieser menschenverachtenden Ideologie geworden zu sein. Wir haben uns darüber nicht zu erheben, denn niemand kann sicher sein, wie er damals als junger verführbarer Mensch reagiert hätte.
Und nicht jeder hat so viel Verantwortungsgefühl, so viel Wahrhaftigkeit und Standhaftigkeit moralischen Grundforderungen gegenüber mit Hilfe seines Elternhauses entwickeln können wie ein Hans Georg Calmeyer. Es nimmt ja nicht wunder, dass er, der sich keineswegs als Held sah, nach dem Krieg Schweigen bewahrte über sein Rettungswerk. Es gab ja genug, die ihn als Verräter angesehen hätten. Der namhafte Historiker Hans Mommsen hat in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ eine wesentliche Tatsache beim Namen genannt, indem er mit Blick auf die Endphase der Weimarer Republik eine weitreichende Affinität der führenden Eliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit Teilzielen der NSDAP feststellt und zugleich „eine seit der Krise der zwanziger Jahre sich zuspitzende moralische Indifferenz im deutschen Bürgertum“.
Nach allem, was auf deutschem Boden geschehen ist bzw. von hier ausging, dürfen wir uns solche „moralische Indifferenz“ weniger denn je leisten. Ich bin überzeugt, dass die vorliegenden zwanzig Erzählungen von Volker Issmer zur NS-Vergangenheit in unserer Region auch aus diesem Grund niemanden gleichgültig lassen werden. Es sind bewegende Geschichten, in denen „Geschichte zum Greifen“ nahe kommt, wie es in einem Pressebericht in der NOZ vom 7.7.2010 heißt, der die archäologische Grabungsarbeit junger Leute an der Gedenkstätte Augustaschacht im vergangenen Sommer beleuchtet. A u g u s t a s c h a c h t - damit ist der Ort genannt, der für den Autor seit vielen Jahren im Mittelpunkt nicht nur seines Forschens steht, sondern ebenso sehr im Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens. Seine Empathie für die Opfer und Helfer, aber auch sein Nachdenken über die Täter und deren Prägung in ihren Familien oder durch die NS-Ideologie sind in allen Geschichten spürbar. Meines Erachtens sind diese Erzählungen in jeder Weise Beleg dafür, wie Volker Issmer die Frage der Weitergabe des Erforschten umtreibt, wie er die Verantwortung für die Notwendigkeit der Erinnerung im Blick behält, um dem Vergessen entgegenzuwirken. Wie notwendig die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach wie vor bleibt, das haben uns in den letzten Jahren nicht nur Fremdenhass und die dadurch ausgelösten Angriffe auf Asylbewerberheime und vieles mehr gezeigt, sondern auch Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen, seien es Synagogen, Museen, Gedenkstätten. Wie intensiv letztere überwacht werden müssen in unserem Lande – im Unterschied etwa zu Dänemark - , das mag sich jeder beim Besuch des Jüdischen Museums in Berlin vor Augen führen.
Die meisten Leser wissen, wie lange es nach dem Krieg gedauert hat, ehe eine breitere Beschäftigung mit dem unsäglichen Geschehen während der Hitler-Diktatur einsetzte. Viele der älteren Generation werden sich an die Verjährungsdebatten im Bundestag in den 60-er Jahren, ebenso wie an den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964 erinnern. Sie wurden von jenen aufmerksam verfolgt, denen früh schon klar war, dass Demokratie auf einem Fundament von Lügen und Verdrängen, von Wegschauen und Verharmlosen nicht bestehen kann. Aber erst Ende der 70-er Jahre erfolgte mit der Ausstrahlung des amerikanischen Films „Holocaust“ und der sich jeweils anschließenden Diskussion im Fernsehen eine spürbare Erschütterung in weiten Teilen der Bevölkerung. Und Mitte der 80-er Jahre setzte mit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes eine neue Stufe der Aufklärung ein über das, was die Nationalsozialisten in Deutschland und darüber hinaus angerichtet hatten. Insbesondere Hat Weizsäcker darauf verwiesen, dass der 8. Mai auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung sei und nicht ein Tag der Niederlage.
Ich lasse einmal dahin gestellt, ob diese Rede und dieser Appell mit dazu geführt haben, in Osnabrück die Dinge weiter zu bewegen. Es gilt in jedem Fall festzuhalten, dass in kurzem Abstand gegen Ende dieses Jahrzehnts sowohl die Gründung der Remarque- wie der Nussbaum-Gesellschaft erfolgte und sich wenig später die Calmeyer-Initiative bildete. Auch der Verein Gedenkstätte Gestapokeller sowie der Verein Initiative Augustaschacht Ohrbeck wurden gegründet, an deren Arbeit sich inzwischen Stadt und Landkreis Osnabrück beteiligen, zumal sich mittlerweile am Augustaschacht ein historischer Lernstandort entwickelt hat. Die genannten fünf Vereine bilden zusammen eine der Säulen für die Friedensarbeit der Stadt Osnabrück. Aber mit dieser Feststellung ist es natürlich nicht getan. Es bleibt unendlich viel zu tun, um gerade die jüngere Generation einzubinden und sie u.a. mit der Frage zu konfrontieren, wie sie sich damals verhalten hätte, wo helfend hätte eingeschritten werden können, ob man sich der täglichen ideologischen Beeinflussung hätte entziehen können und vieles mehr. Welche Bedeutung die Begegnung mit der handgreiflichen Wirklichkeit eines Originalschauplatzes der lokalen Geschichte hat, das unterstreicht Manfred Blieffert (Musik- und Kunstschule der Stadt Osnabrück) in seinem Projektbericht von den ersten Ausgrabungen am Augustaschacht im Herbst 2000. Er sagt: „Wer sich in einem derartigen Projekt der Grausamkeit des Ortes aussetzt, wer die eigenen psychischen Schutzmauern verlässt und sich wahrnehmend öffnet, der erscheint gegen Anfechtungen eines aufkommenden Neonazismus gefeit.“
Dieses „Sich- wahrnehmend- Öffnen“ erscheint mir eine passende Formulierung auch für die vorliegenden Erzählungen Volker Issmers, die so viele Aspekte der damaligen Lebenswirklichkeit einfühlsam beleuchten und die uns ermöglichen, ganz unterschiedliche Situationen zu erfassen und zu begreifen, was die Menschen bewegt und sie angetrieben hat, bisweilen erst lange nach dem Geschehen. Das gilt zum Beispiel für die Erzählung „Das Plädoyer“, in der es um einen Prozess im Jahre 1964 geht. Ausgelöst worden war das Verfahren durch eine Zeitzeugin, der der Mord an zwei ehemaligen Zwangsarbeitern, einem Polen und einem Russen, fast zwei Jahrzehnte lang keine Ruhe ließ. Die beiden jungen Männer waren im April 1945 von einem Mitglied des in Wellendorf gebildeten Selbstschutzes im Wald erschossen worden. Der Pflichtverteidiger setzt nun in seinem Schlussplädoyer alles daran, für den Angeklagten einen Freispruch zu erwirken, wobei er sich all der Argumente bedient, die bis heute in den Köpfen mancher Zeitgenossen festsitzen. Beinahe wäre dem Verteidiger der Begriff „jüdisch- kommunistischer Ideologe“ (gemeint ist Ilja Ehrenburg) über die Lippen gekommen. Auffällig ist, dass an keiner Stelle des Plädoyers auch nur ansatzweise Verständnis für die Lage der Fremdarbeiter erkennbar wird, geschweige denn ein Nachdenken über deren leidvolle Vorgeschichte in dem nahen Arbeitserziehungslager, das im Volksmund „Arbeitszuchtlager“ genannt wird. Der junge Anwalt erweist sich mit seiner Argumentation, für die er viel Zustimmung bei den Zuhörern erhält, als typischer Vertreter der Juristenschaft jener Jahre, die selbst im Jahr des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von selbstkritischer Reflexion weit entfernt zu sein scheint.
Erst 2002 kommt es in Niedersachsen zu einer Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus – Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes“, die auch in Osnabrück im Landgericht gezeigt wird. Und im Jahre 2007 wird an gleicher Stelle eine Ausstellung über Hans Calmeyer gezeigt, ergänzt um eine andere wichtige Ausstellung unter dem Thema „Anwalt ohne Recht – Schicksale jüdischer Rechtsanwälte im Bereich des heutigen Oberlandesgerichtes Oldenburg“. An den Tod zweier Juristen unter ihnen, Dr. Adolf Cohen und Dr. Hugo Schulhof, erinnern mittlerweile Stolpersteine vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes am Neumarkt.
Was die oben erwähnte Bezeichnung „Arbeitszuchtlager“ betrifft, so macht sie im Grunde deutlich, dass den Menschen wohl bewusst war, dass es sich dort nahe Ohrbeck um eine Art KZ handelte und die Behandlung für die dort Eingewiesenen entsprechend war. Die Erzählung „Das Kinderlied“ macht das besonders deutlich. Ein kleiner Junge schleicht sich ohne Wissen der Mutter in die Nähe des Lagers am Augustaschacht und erlebt dort wiederholt, wie neu angekommene Häftlinge angetrieben werden, wieder und wieder einen Hang zu erklettern, dabei geschlagen und verhöhnt werden, viele blutend liegen bleiben. Es gibt eine ganze Reihe erwachsener Zuschauer am Zaun, die lachen und applaudieren und offenbar mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, was der Anführer brüllt: „Hier wird allen faulen Ausländern beigebracht, was in Deutschland arbeiten heißt.“ Damit nimmt der Autor unmittelbar Bezug auf den Runderlass Heinrich Himmlers vom 28. Mai 1941, der die Errichtung von sog. Arbeitserziehungslagern forderte auf Grund der zunehmenden „Arbeitsverweigerung“ von im Reich eingesetzten zivilen ausländischen Arbeitskräften. Es heißt darin: „Arbeitskräfte, die die Arbeit verweigern oder in sonstiger Weise die Arbeitsmoral gefährden, sind zusammenzufassen und dort zu geregelter Arbeit anzuhalten. Die Arbeitserziehungslager sind ausschließlich zur Aufnahme von Arbeitsverweigerern und arbeitsunlustigen Elementen, deren Verhalten einer Arbeitssabotage gleichkommt, bestimmt. Die Einweisung verfolgt einen Erziehungszweck“. Die Wortwahl des Erlasses spricht für sich.
Die Stadt Osnabrück hat sich bereits vor etwa einem Vierteljahrhundert dazu entschlossen, als ein Zeichen der Versöhnung frühere jüdische Mitbürger einzuladen, später auch ehemalige Zwangarbeiter, die in den zahlreichen Kriegsgefangenenlagern in Osnabrück zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren. Sie kamen aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden, aus Polen, der Ukraine und Russland, auch aus Serbien. Am Piesberg befand sich mit etwa 2000 vorwiegend russischen Kriegsgefangenen eines der größten Lager. Vielleicht ermöglicht die Schilderung des Schicksals einzelner dieser Zwangsarbeiter in diesem Buch, deren spätere Forderung nach Entschädigung weniger empört zu sehen als manche politisch Verantwortliche im Jahre 2003. Ich habe die sog. Hohmann-Affäre bereits erwähnt. Die im Vorfeld von diesem früheren Mandatsträger gestellte Anfrage an den Bundestag verdeutlicht, wie abwegig gar nicht so wenigen Deutschen die Zahlung von Entschädigungen erschien. Die Anfrage lautete: „Ist die Bundesregierung bereit, sich auch für deutsche Zwangsarbeiter einzusetzen, nachdem für ausländische und jüdische Zwangsarbeiter 10 Milliarden zur Verfügung gestellt worden sind?“
Meines Erachtens gehört bis heute ungeheuer viel persönliche Einsicht und Einfühlungsvermögen dazu, sich auch der je eigenen Familiengeschichte zu stellen und dabei Abschied zu nehmen von dem oft ausschließlichen Blick auf die eigenen Leiden und Entbehrungen während und zunehmend gegen Ende des Krieges. Das Bemühen um Wahrhaftigkeit ist für den gesamten Zeitraum ab 1933 immer wieder gefordert. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einen Ausschnitt aus einer Rede Willy Brandts einfügen, die er am 10. Mai 1983 - dem 50. Jahrestag der Bücherverbrennung - hier in Osnabrück gehalten hat:
„Die hier Geist und Zivilisation ‚erledigen’ wollten, waren kein Kabarettspuk, sondern Teil einer schrecklichen, unglaublichen Wirklichkeit. An diesem 10. Mai vor fünfzig Jahren ging es längst nicht mehr bloß um symbolische Verbrennungen ...Arbeiter sowie Intellektuelle waren schon real Gefangene, leibhaftig Gefolterte. Und es wären noch viel mehr gewesen, wenn sie sich nicht ins Ausland gerettet hätten vor der mordlüsternen Bestie, zu der die Nazis Deutschland machten. Die Scheiterhaufen waren eine schaurige Demonstration der Absage an den Geist, kitschig und brutal, dazu noch fälschliche Berufung auf das Wartburgfest. Studentische SA in Braunhemd oder in vollem Wichs, grölend und ergriffen vor den Flammen. Und jene Professoren, die die passenden Reden beisteuerten, sie gaben vor, die deutsche Kultur schützen zu müssen, und taten es, indem sie verbrennen ließen, was sie ausmachte.“
Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an die Formulierung Hans Mommsens, der von der „moralischen Indifferenz“ des deutschen Bürgertums spricht. Von Hans Calmeyer, zu dessen Rettungswerk in den Niederlanden gerade in Den Haag eine Ausstellung eröffnet wurde, war bereits die Rede. Ich erwähne ihn noch einmal, weil er für mich zu jenen Vertretern des Bürgertums zählt, die davon nicht befallen waren. Er wusste, was zu tun war, in welcher schwierigen Situation auch immer. Er wusste, dass wir selbst verantwortlich sind für das, was wir tun, und dass es eine Flucht in den Gehorsam, von dem Max Frisch in einem seiner Stücke („Nun singen sie wieder“) spricht, nicht gibt. Ich bin sicher, dass Calmeyer der folgenden Aussage des großen Schweizer Autors zugestimmt hätte. Ich möchte sie - auch mit Blick auf den heutigen 100. Geburtstag Max Frischs zitieren: „Der Gehorsam befreit uns nicht von der Verantwortung... Sie ist uns gegeben, jedem von uns, jedem die seine. Man kann seine Verantwortung einem anderen geben, damit er sie verwalte. Man kann die Last der persönlichen Freiheit nicht abtreten.“
Die 1954 in Paris geborene Autorin Cécile Wajsbrot hat für mich die notwendige Einsicht in sehr bewegende Bilder und Worte gefasst. Sie stellt angesichts eines Gemäldes von Caspar David Friedrich - Eichbaum im Schnee - folgende Betrachtung an: „Die hundertjährigen Bäume im Tiergarten... wurden von den Leuten zu Brennholz geschlagen, denn die Berliner froren, ...ausgerechnet sie froren, die nie an die Kälte gedacht hatten, die die Deportierten aushalten mussten, an das Eis, an die endlosen Schneeflächen, an diejenigen, die keinen Park hatten, in dem man übriggebliebene Bäume fällen konnte. Aber das war nicht ihre Schuld, jedenfalls nicht ganz, sie hatten es nicht bemerkt, das hatten sie eigentlich nicht gewollt, man muss sich nur die Wochenschauen ansehen mit den versteinerten Gesichtern der Weimarer, die von den Amerikanern durch Buchenwald geführt wurden, ihre Bestürzung angesichts der Leichengruben, der bis aufs Skelett abgemagerten Gesichter und Körper, man muss nur den Schockzustand sehen, in dem sie sich befanden, um zu verstehen, dass sie nicht mitgemacht hätten, wenn sie das gesehen hätten. Leider wussten sie es nur in abstracto, sie kannten die Gesetze, die Beschränkungen, den langsamen Weg von der Unmöglichkeit, ein normales leben zu führen, zu der Unmöglichkeit, am Leben zu bleiben, sie wussten davon, aber sie wandten die Augen ab.“ Und dann listet die Autorin all diese Gesetze auf, die heute in Berlin/Schöneberg am Bayrischen Platz auf Schildern zu lesen sind.
Heute liegt es an uns, die Augen nicht mehr abzuwenden. Heute liegt es an uns, auch jene ins öffentliche Bewusstsein zu rufen, die den Mut hatten, „dazwischen zu treten“ wie Luise Lütkehoff, der die letzte Erzählung gewidmet ist. Es gelingt künftig hoffentlich immer mehr, den Kontakt zur jüdischen Gemeinde zu intensivieren, deren neues Zentrum so viel Helligkeit und Zuversicht ausstrahlt und deren Kinderchor zu hören und zu erleben eine einzige Freude ist.
Deshalb möchte ich zum Schluss noch auf eine weitere Erzählung im der vorliegenden Sammlung eingehen. In „Der Fund“ geht es um die Entdeckung einer Mikwe bei Freunden, also um ein jüdisches Tauchbad. Die Anlage in einer Felswand wird von mehreren Anwohnern zur Zeit als kühler Abstellraum genutzt. Von einer jüdischen Gemeinde in diesem Ort, von einer Synagoge, gar von einem rituellen Tauchbad namens MIKWE hatten die Freunde noch nie gehört. Soll die Öffentlichkeit nun über diese Entdeckung informiert und damit möglicherweise die private Ruhe der Anwohner gestört werden? Ich möchte mich der Seite anschließen, die dies befürwortet, auch wenn dafür intensive Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Denn wenig genug ist erhalten bei allem, was vernichtet wurde. Und dass die Geschichte der Juden in unserem Lande seit dem frühen Mittelalter mit zu unserer Kultur gehört, das sollte eine Erkenntnis sein, die uns allen nicht nur wohl anstünde, sondern die uns auch befreien könnte von ideologischen Scheuklappen, die allzu lange beibehalten wurden.
Möge diese Sammlung von Geschichten aus einer uns heute so fremd und fern erscheinenden Zeit viele aufmerksame und mitfühlende Leser finden.
Ich danke für Ihre Geduld! Karin Jabs-Kiesler