Leseauszug aus Jutta Urbigkeit - Frag nicht so viel (der Roman von Kindheit und Jugend eines Mädchens im Ruhrgebiet)


Pole Poppenspäler

„Kommst du am Sonntag mit zum Schwimmen? Mein Vater nimmt dich mit“, sagt Dagmar.
Anna ist überrascht. Sie darf mit denen mitfahren?
Die Hohenfelds wohnen in dem Eckhaus mit dem herrlich großen Garten, nur drei Häuser weiter. Deren Kinder spielen nicht auf der Straße und machen sich nicht schmutzig. Nett und höflich sind sie, und jeder in der Siedlung hat Respekt vor den Hohenfelds. Die sind etwas Besseres.
Und Anna darf jetzt mit, wenn Herr Hohenfeld mit seinen Kindern sonntags ins Stadtbad fährt.
Die Kinder toben im Nichtschwimmerbecken, während Herr Hohenfeld seine Runden schwimmt. Doch in der letzten Viertelstunde nimmt er Anna und Dagmar mit ins große Becken. Er will sie fit machen für das erste Schwimmabzeichen.
Dagmar kann schon besser schwimmen als Anna, weshalb er sich ganz besonders um Anna bemüht. „Achte auf deine Atmung“, sagt er, schwimmt neben ihr her, ermutigt sie, und schon bald holt Anna auf.
„Ihr werdet beide noch richtig gute Schwimmerinnen“, sagt Herr Hohenfeld.
Nach dem Schwimmen fahren sie gut gelaunt heim, Anna bedankt sich und läuft auf ihr Reihenhaus zu, wo es bald etwas zu essen gibt – wenn alles gut geht. Wenn nicht, ist der Vater vorzeitig angetrunken und das Essen angebrannt. Oder Mutter schlägt dem Vater die Nase blutig, weil sie seinen säuerlichen Atem gerochen hat. An solchen Sonntagen gibt es keinen Braten, sondern nur Nudeln mit Ketchup. O-der das angebrannte Essen.
Es ist der sechste Sonntag in Folge, als Dagmar nach dem Schwimmen fragt: „Anna, kommst du noch mit zu uns?“
Anna staunt, als sie in das Wohnzimmer der Hohenfelds kommt, das groß und hell und aufgeräumt ist, ganz anders als bei ihr zu Hause. Hier gibt es im Wohnzimmer eine gemütliche Essecke mit Durch-reiche zur Küche, und in der Küche steht Dagmars Mutter und kocht. Es herrscht eine Festtagsstim-mung, dass Anna sich fragt, ob womöglich jemand Geburtstag hat. Anna und Dagmar setzen sich an den Tisch, bekommen eine heiße Tasse Schokolade gereicht und spielen erst Mühle, dann Scrabble. Dagmars Geschwister hocken auf dem Teppich und legen ein Puzzle. Niemand bölkt, niemand schimpft. Alle freuen sich auf das Essen, es riecht auch schon so gut. Nach gebackenem Huhn und gerösteten Kartoffeln, Anna läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie haben die erste Runde gerade beendet, als eine Schüssel Salat auf den Tisch gestellt wird.
„Musst du nicht bald nach Hause, Anna?“, fragt Frau Hohenfeld freundlich aus der Küche. „Deine Eltern warten doch sicher auf dich.“
„Ach nein, die wissen doch, wo ich bin. Hab ihnen doch Bescheid gesagt.“

Anna fragt sich, ob zu Hause die Keiferei schon im Gang ist und ob Papas Sauerbraten heute wieder angebrannt ist. Dann muss man Teile davon ab-schneiden und sich mit dem bitteren Geschmack abfinden. Nie würde Anna bei Tisch auch nur ein Wort darüber verlieren, das wäre nur Wasser auf Mutters Mühlen. Die scheint regelrecht darauf zu lauern, dass dem Papa etwas schiefgeht. Dann kann man den Hass aus Mutters Augen fließen sehen, und wie er sich über den Küchentisch ergießt, über die ganze Küche, über das ganze Haus. Doch noch ist Anna bei den Hohenfelds. Wo es ruhig und friedlich ist, wo Anna sich gut aufgehoben fühlt. Und das will sie bis zur letzten Sekunde auskosten. Ja! Alles hinauszögern, so lange es geht.
Dagmar fängt an, die Buchstabensteine in den Pappkasten zu räumen.
„Wollen wir nicht noch eine Runde spielen?“, fragt Anna.
„Ein andermal.“ Dagmar schiebt die restlichen Steine in den Kasten und bringt ihn weg.
„Hast du deinen Kakao ausgetrunken?“, fragt Dagmar.
„Ja, fast.“ Anna setzt die Tasse an ihren Mund und schlürft so langsam wie möglich den letzten zuckri-gen Rest mit der Zunge auf.
Dagmar nimmt beide Kakaotassen und stellt sie in die Durchreiche: „Hier, Mama.“
„War lecker! Danke, Frau Hohenfeld!“, ruft Anna und hofft, dass sie gefragt wird: Willst du noch einen? Aber Frau Hohenfeld sagt nur: „Gerne.“
Dagmars Geschwister verteilen das Besteck auf dem Tisch. Anna sitzt noch immer auf ihrem Stuhl. Sie be-kommt kein Besteck, bleibt aber sitzen. Herr Hohenfeld legt seine Zeitung beiseite, wendet sich zu Anna und sagt: „Weißt du denn schon, was es heute Mittag bei euch zu Hause zu essen gibt?“
„Nein, nicht so genau. Heute früh hat mein Papa Kar-toffeln geschält.“
„Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen, Anna. Die warten bestimmt mit dem Essen auf dich.“
Anna zieht rasch ihre Schuhe an, bedankt sich leise und geht.
Zu Hause fliegen die Schlappen. Das Essen ist angebrannt.
Am nächsten Sonntag stehen sie nach dem Schwimmen vor Herrn Hohenfelds Auto um einzusteigen. „Du hast gut schwimmen gelernt. In so kurzer Zeit! Kompliment“, sagt Herr Hohenfeld zu Anna. Er lächelt und zieht ein knallgelbes Büchlein aus der Tasche.
„Weißt du, jetzt könnt ihr beide ja schon richtig gut schwimmen. Deshalb fahre ich ab jetzt nur noch mit den beiden Kleinen ins Schwimmbad.“
Anna schluckt. „Ach so.“
Er reicht ihr das nur handgroße gelbe Heft und sagt: „Als kleine Belohnung. Für deine Fortschritte.“
„Danke, Herr Hohenfeld.“
Anna schaut auf das Büchlein: Theodor Storms „Pole Poppenspäler“. Sie wird es gleich am Nachmittag lesen. Sie freut sich drauf.
Oder ist das etwa als Abschiedsgeschenk gemeint?
Auf der Heimfahrt sitzt Anna wie immer mit Dagmar auf der Rückbank. Sie hält ihre Schwimmtasche auf dem Schoß, die Hände darübergelegt, in einer Hand den Poppenspäler.
Ob Dagmar wohl wirklich nicht mehr mit zum Schwimmen fährt?
Anna reckt sich ein wenig, um Herrn Hohenfelds Gesicht im Rückspiegel sehen zu können.
Er lächelt und nickt ihr aufmunternd zu.
Anna versenkt ihren Blick rasch in das gelbe Heft.

 

 

Jutta Urbigkeit

Frag nicht so viel

Ein Roman in

41 Geschichten

Geest-Verlag 2020

ISBN 978-386685-808-4

ca. 330 S., 12,80 Euro

 

 

41 Prosatexte schildern die Kindheit und Jugend des Mädchens Anna im Ruhrgebiet, ausgehend von den 1950er Jahren bis ins Erwachsenenalter.
„Frag nicht so viel“ ist ein Satz, den Anna oft zu hören bekommt, weil sie mehr Wissen und Freiheit verlangt, als Mädchen in der damaligen Zeit zustand. Jede Geschichte hat einen eigenen Spannungsbogen und ist in sich abgeschlos­sen, doch zusammen ergeben diese Texte ein großes Mosaikbild, das zeigt, wie man zu dem Menschen wird, der man ist.

Ich will kein Mädchen sein, denkt Anna, und eine Frau schon gar nicht. Sie hat am Abend nichts gegessen. Sie will weiterhin nichts essen. Oder nur sehr wenig. Dann würde sie so klein und schmächtig bleiben, wie sie jetzt ist, und sie würde keine Frau werden. Niemals.


Jutta Urbigkeit (* 1951 in Essen) veröffentlichte einige Kurzgeschichten in Anthologien, darunter 2015 in: „Die Sachensucherin“, 55 Kurzgeschichten, Wettbewerb des Literaturbüros Ruhr.