Lesen in Deutschland berichtet ausführlich über das 'Das ist unser Haus Projekt'
Gemeinsam schreiben |
07.08.2015 |
Erfahrungsbericht über ein Buch- und Inklusionsprojekt
http://www.lesen-in-deutschland.de/html/content.php?object=journal&lid=1334
Theateraufführung in der Pestalozzischule © Geest-Verlag |
Den Roman „Das ist unser Haus!“ schrieben Neuntklässler der Pestalozzi-Förderschule Brake und Achtklässler des Gymnasiums Brake im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes der beiden Schulen, des Geest-Verlages und des Vereins „Kultur vor Ort“ mit Unterstützung ihrer Lehrerinnen und des Herausgebers Alfred Büngen. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Jugendzentrum für Brake und die Frage, warum Jugendliche ein eigenes Haus brauchen. Anhand von zwölf Romanfiguren, die allesamt junge Leute mit den typischen Sehnsüchten und Wünschen ihrer Generation sind, wird die Geschichte erzählt. Szenen der Romanhandlung wurden zu einem Theaterstück umgearbeitet und von Schülerinnen und Schülern in der Aula der Pestalozzischule vor vielen Ehrengästen, zu denen auch Cornelia Rundt, Sozialministerin des Landes Niedersachsen, gehörte, aufgeführt.
Im Nachwort des Buches berichtet Alfred Büngen über seine Projekterfahrungen und über seine anfängliche Skepsis, die sich jedoch angesichts des Verlaufs und der Ergebnisse des Schreibprozesses als völlig unberechtigt erwies.
Projekterfahrungen des Herausgebers Alfred Büngen
Mit mehr als 50 Jugendlichen einen Roman schreiben? Dazu noch ein Inklusionsprojekt mit Gymnasiasten und Förderschülern? Ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Projekt, hätte auch ich vor gut einem halben Jahr gesagt. Das vorliegende Buch zeigt jedoch: Das Unmögliche wurde möglich. Doch der Reihe nach.
Im Jahr 2013 führten Kultur vor Ort e. V., Berne, und der Geest-Verlag zusammen mit der Pestalozzischule Brake ein Buch- und Schreibprojekt durch, bei dem Schülerinnen und Schüler dieser Schule ihre Befindlichkeiten in Buchform äußerten („Zwischen Kuschelbär und Liebesglück“). In diesem Projekt wirkten die in diesem Buch nun mehr selbst zu Autorinnen und Autoren gewordenen Gymnasiasten als Schreibpaten für die jüngeren Schülerinnen und Schüler der Pestalozzischule mit. Wie erstaunt waren wir, als wir aus der regionalen Presse erfuhren, dass diese Schreibpaten aus eigenem Antrieb ältere Schülerinnen und Schüler kurz vor Weihnachten zu einem gemeinsamen Frühstück eingeladen hatten und dazu Texte aus „Zwischen Kuschelbär und Liebesglück“ gemeinsam lasen. Das war der entscheidende Impuls: Warum nicht gemeinsam ein Buch schreiben?
Die Verantwortlichen in beiden Schulen waren sofort bereit, mitzuwirken. Und insgesamt mehr als 70 Schülerinnen und Schüler der achten Klassen des Gymnasiums und der neunten Klasse der Pestalozzischule. Das sprengte den Rahmen. So wurde den Gymnasialschülerinnen und -schülern die Wahl gestellt, entweder am Buch selber mitzuschreiben oder den Prozess des Schreibens und das Leben von Jugendlichen etc. zu dokumentieren.
Auch das Thema war rasch gefunden: Jugendliche erkämpfen sich ein eigenes Jugendhaus. Auch hier war ich skeptisch: im Zeitalter von Twitter & Co. ein Jugendhaus? Ist das nicht eine Idee von Erwachsenen, die in ihren Jugendjahren vielleicht in dieser Jugendzentrumsbewegung steckten? Und dann natürlich der Zeitfaktor. Drei Schreibtage waren vorgesehen, um das gemeinsame Projekt durchzuführen. Also, ein Figurenensemble schaffen, eine Handlung skizzieren und in gemischten Gruppen zumindest den Roman in wichtigen Sequenzen schreiben, dabei im Hintergrund immer beachten, dass die Begegnung miteinander, das gegenseitige Erfahren von Lebens-, Denk- und Gefühlswelten wesentliches übergeordnetes Ziel eines solchen Inklusionsprojekts bleibt.
Doch wie die Figuren gestalten? In einem Vorlauf skizzierten die Schülerinnen und Schüler jeweils sich: Vorlieben, Interessen, Grundhaltungen, Zukunftsperspektive und vieles mehr. Daraus abstrahierte ich das Grundensemble der Figuren des Romans: 12 verschiedene Personen mit sehr unterschiedlichen sozialen Hintergründen, Bildungsniveaus etc. Die Schülerinnen und Schüler wurden also zu ihren eigenen Romanfiguren, die so angelegt waren, dass sie sich zum Teil untereinander in Beziehung befanden, sich zum Teil aber auch überhaupt nicht kannten. In jede Figur wurde zudem eine bestimmte Handlungsproblematik eingebaut, die die Handlung des Romans von allein weitertreiben konnte. Bis zu fünf Schülerinnen und Schüler sollten sich jeweils zu einer der Personen des Romans zuordnen und in dieser Person die Handlung durchlaufen.
Erste Klippe: die Zuordnung zu den Figuren. Einige gruppendynamische Spiele trugen dazu bei, dass die Zuordnung zu den Figuren weitgehend problemlos verlief, d. h., Jugendliche beider Schulen ordneten sich jeweils einer Person zu. Dabei war nicht zu erkennen, dass die Zuordnung über die eigene Nähe zu den Romanfiguren erfolgte. Die Gruppen zu den Romanfiguren blieben, einige kleinere Wechsel ausgenommen, an den drei Schreibtagen bestehen.
In den nun folgenden drei Schreibtagen (jeweils mit mehrwöchiger Pause) beschrieben die Jugendlichen unter jeweiligen Aufgabenstellungen die Entwicklung und das Verhalten der Romanfiguren. Es war dazu erlaubt, die Figur auch umzugestalten, wovon in den meisten Fällen Gebrauch gemacht wurde. Einige Figuren erlebten andere Namen, andere Handlungshintergründe. Während des Schreibens mussten die Schreibenden jeweils mit den anderen Schreibgruppen Kontakt halten, um diesen Handlungsentwicklungen, von denen sie betroffen waren, mitzuteilen. Dazu wurde innerhalb der Gruppen eine Struktur geschaffen, die jedem der Jugendlichen eine Aufgabe zuwies (etwa Schreiber, Sprecher, Verbindungsmann/-frau etc.). Zwischendurch wurden die Schreibergebnisse jeweils vorgelesen. An zwei Stellen wurde die Gruppenstruktur entlang der Personen aufgesprengt und es konnten neue Gruppen gebildet werden (Sponsorensuche, Song fürs Jugendhaus schreiben).
Den Schreibprozess im Einzelnen zu beschreiben, würde dieses Nachwort bei Weitem überfordern. Doch seien zumindest einige Auffälligkeiten genannt:
- eine hohe Gesprächskultur innerhalb der Gruppen unter den Jugendlichen (Austausch auch weit über die eigentliche Schreibaufgabe hinaus);
- sehr kontroverse Beurteilung des Handelns der einzelnen Figuren in der Gruppe (nicht entlang der Schulzugehörigkeit, vielmehr entlang der eigenen persönlichen Grundeinstellungen);
- zum Teil einfühlsamere, individuellere Zugangsweise zu den Romanfiguren von Jugendlichen der Pestalozzischule;
- Entwurf der Handlungskonzepte der Figuren meist durch Jugendliche des Gymnasiums;
- besseres gemeinsames Arbeiten an den Schreibtagen in der Pestalozzischule, da Größe, Lärmpegel, Umgangsformen am Gymnasium für die Jugendlichen der Pestalozzischule schwierig zu bewältigen waren;
- Berichte über die Projektergebnisse wurden von Jugendlichen beider Schulen vorgetragen;
- mit jedem Schreibtag wurde der Umgang der beiden Gruppen miteinander vertrauter und die Arbeitsergebnisse daher besser, wurden die Arbeitsaufgaben auch rascher und kreativer bewältigt;
- die inhaltliche Komponente, Gründung eines Jugendhauses, wurde mit jedem Schreibtag spannender, als wesentlicher empfanden die Jugendlichen jedoch die Entwicklung der Persönlichkeiten der einzelnen Romanfiguren.
Am Ende der Schreibtage saß ich vor einem Berg beschriebener Blätter, die zum Teil wortwörtlich, manchmal überarbeitet oder als Handlungsstruktur in das Gesamtgefüge des Romans übernommen wurden. Als Herausgeber lag es nun an mir, aus den vielen Einzelteilen einen Gesamtroman zu stricken, eine Aufgabe, die unter einem höheren Zeitbudget auch von einer Gruppe von Jugendlichen aus beiden Schulen zu erledigen gewesen wäre.
Meine anfängliche Skepsis war also völlig unberechtigt. Obwohl durch eine Vielzahl von Buchprojekten mit Kindern und Jugendlichen geschult, war mein Vertrauen in die Fähigkeiten von Jugendlichen beim Schreiben nicht hoch genug gewesen. Jugendliche, gleich welcher Herkunft, welcher Schulbildung und welchen Alters können mehr, als wir ihnen gerade im Schreiben zutrauen. Sie sind kreativ, entwickeln eigene Konzepte, durchdringen Sachverhalte und Handlungen, erfassen Figuren auch in ihrem Handeln miteinander - wir müssen sie nur lassen und dürfen nicht mit vorgefertigten Mustern auf sie zugehen. Mit ihnen gemeinsam entwickeln, zuhören, mit ihnen über ihre Ergebnisse sprechen, auch uns fremd vorkommende Lösungen akzeptieren, daraus kann sogar ein ganzer Roman entstehen.
Und der Inklusionsgedanke dabei? Ich kann und mag nicht im Einzelnen beschreiben und beurteilen, was sich bei den mitschreibenden Jugendlichen entwickelt hat. Natürlich gibt es Unterschiede im Schreiben und im Leistungsniveau zwischen beiden Schulen. Für mich waren sie weniger spürbar als die Leistungsunterschiede innerhalb der jeweiligen Schule. Unterschiedliche Zugangs-, Betrachtungs- und Arbeitsweisen belebten die Arbeiten insgesamt mehr, als dass sie irgendetwas verhinderten. Der Erfahrungsaustausch untereinander über das Denken, Fühlen und Verhalten der Romanfiguren brachte den Austausch über eigene Fühl- und Denkansätze. Man wurde sich vertrauter, kann inzwischen auch im außerschulischen Bereich einmal „Hallo“ sagen. Und man entdeckte Gemeinsamkeiten zwischen sich: gleiche soziale Problemstellungen, gleiche Freizeitinteressen, gleicher Musikgeschmack und vieles mehr. Je länger der Schreibprozess dauerte, umso mehr verwischten die jeweiligen Schulzugehörigkeiten.
Das ist unser Haus!
Ein Roman von Jugendlichen der Pestalozzischule und des Gymnasiums Brake
in Zusammenarbeit mit Kultur vor Ort e. V., Berne und dem Geest-Verlag
Hrsg. von Alfred Büngen
Geest-Verlag 2014
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