Liebesperlen und Lakritze - Erzählung von Hildegard Kohnen geht in Arbeit

 In Arbeit geht die Erzählung von Hildegard Kohnen 'Liebesperlen und Lakritze', die die letzten Kriesgsjahre in einem Eifeldorf aus der Sicht eines Kindes schildert.

 

Hildegard Kohnen

Liebesperlen und Lakritze

Geest-Verlag 2010




 

Das Büdchen am Eck

 

Kein Stern glühte

In dieser Nacht

Als aus einem Kinderparadies

Fast ein Kindergrab wurde

Wütend

Mit geschlossenen Augen

Verweigerte ich mich der Welt

Inmitten des kohlenschwarzen Chaos

Von Schutt, Scherben und Asche

Stand einzig

Das alte Büdchen am Eck

Heil erhaben unverletzt

Der Tod schmeckte süß

Nach Liebesperlen und Lakritze

 

Sommer 1942.
    
Alarm – Sirenen heulen – Pfeifen – Brausen in der Luft. Mutter stand an meinem Bett und schüttelte mich. Es war eine sternenklare Nacht. Glühwürm-chen leuchteten am Himmel. Schlaftrunken lief ich barfuss, die Schuhe in der Hand, hinter Lisa die Treppe hinunter in den Keller und schlüpfte, wie vorher oft geprobt, durch eine Öffnung in den Nachbarkeller, indem sich schon Leute befanden. Meine Mutter kam als letzte. Wieder war dieser entsetzlich schrille Ton zu hören. Ein Mann drück-te uns auf einen riesigen Kohlenberg und warf sich über uns. Sein Körper war schwer. Meine Schwes-ter wimmerte: „Er drückt uns tot, er drückt uns tot.“ Dann war es vorbei. Wir suchten erzweifelt nach unserer Mutter. Das Haus schwankte, der Boden und die Wände bebten. Stöhnen, Krachen, Splittern, Staub, Schutt, berstende Mauern, split-terndes Glas. Hilfeschreie. Jemand betete laut - Vater unser! Plötzlich Stille, wattig und staubig, so still, dass ich mich atmen hörte. Ich schmeckte Kohlen. Wie schmecken Kohlen? Wie konnte man ohne Stimme sprechen? Wir fanden Mutter. Sie kauerte auf dem Boden, ihre Arme bluteten. Lisa weinte und zog schniefend die Nase hoch. Keiner sprach, alle hatten Rußgesichter. Es wurde dunkel um mich, ich fiel weich und tief. Dann waren da Stimmen. Sie kamen von draußen: „Keine Panik, ihr seid verschüttet, wir holen euch raus.“ Was heißt verschüttet? Wie kann man Menschen ver-schütten? Erneut die Stimmen: „Zuerst die Kinder!“ Jemand hob mich hoch und schob mich durchs Kellerfenster. Ich schrie tief im Bauch, keiner konnte es hören.
Endlich im Freien. Immer noch war die Nacht ster-nenklar. Immer noch leuchteten flimmernde Punkte am Himmel. Das waren keine Glühwürmchen. Jemand schrie: „Es brennt!“
Wo war Mama, wo war Lisa, meine Schwester, wo war unser Haus und wo die Häuser in der Straße? Fremde Menschen liefen hin und her, redeten durcheinander, riefen, flüsterten, brüllten. Stimmengewirr. Ein Mann rief Namen auf. Mama und Lisa fanden mich. Endlich. Meine Füße waren schwarz, die Schuhe hielt ich in der einen Hand, in der anderen meinen Tornister. Die Häuser ohne Vorderwände sahen wie Puppenstuben aus. Es waren Gespensterhäuser.