MARAH SCHNEIDER, AUS DIE MAUS



Ich bin unsicher. Es sind gefühlte hundert Jahre her, dass mir ein Mann im Café gegenübersaß.
Er gibt sich gepflegt, ist frisch rasiert und sein Körper steckt in einem gebügelten Blümchenhemd. Seine weißen Sneakers glänzen weiß in der Sonne und sein runder Bauch sucht nach Freiraum jenseits seines Ledergürtels. Sichtlich stolz, was er in seinem Leben erreicht hat, breitet er mir sein Leben wie ein Kartenspiel zwischen Bier und Cocktail aus. Lauter Trümpfe, wie mir scheint: Fußballtrainer, Kind gezeugt, Haus gebaut und Frau versorgt. Er sagt, er hat alles für seine Frau gemacht, kannte jedes Fleckchen an ihr. Er konnte ihr viel bieten, den-noch hatte sie ihn verlassen. Offensichtlich kannte er den Ge-schmack ihres Herzens nicht.
Er kann nicht gut allein sein. Sein Bildungsbürgerbauch hebt und senkt sich im Rhythmus seiner Erzählung. Ich nippe an meinem Cocktail und höre zu. So wie ich das immer mache. Ich höre zu! Seine Beine sind selbstbewusst gespreizt. Er will wissen, wie das so ist, so mit dem Querschnitt, … im Rollstuhl! Ich sage ihm, dass es nur ein Fortbewegungsmittel ist. Sagt er: Nein …, wie das so ist, mit dem Sex? Im Rollstuhl? Nein, mit Querschnitt! Ich sage, na ja … Ich hatte noch keine Zeit, mich darum zu kümmern, mir war noch nicht danach.
Im Schatten der Straßenlaterne schließe ich die Augen und Bilder verwobener Körper ziehen an mir vorbei. Nach einer Weile sage ich: „Ich glaube, es ist Kunst! Die Kunst, sich einzu-lassen und darauf zu vertrauen, dass die Angst mich nicht auffrisst. Die Kunst, dem anderen Blick standzuhalten, einzutau-chen in den Geschmack seines Herzens. Die Kunst, nicht zu viel zu wollen und doch alles zu wagen.“ Er grätscht sich un-geduldig zwischen meine Gedanken. „Aber küssen geht doch noch, oder?“ Dabei dreht er sich zu mir rüber und schaut mich erwartungsvoll an. Ja, denke ich leise, küssen geht immer, aber dein Mund interessiert mich nicht. Du bist ein alter Mann, hingegen bin ich noch jung, meine Haut ist glatt und oberhalb meines Querschnitts sind meine Brüste wohlge-formt.
Mir scheint, er kann meine Gedanken hören, denn er winkt hastig den Kellner heran und bestellt sich ein Bier. Seine Fragen sind sehr direkt und ich weiß noch nicht, wie ich das fin-den soll. Ich frage mich, wer von uns beiden behindert ist (obwohl ich dieses Wort überhaupt nicht mag). Sein Blüm-chenhemd und seine viel zu enge Jeans lassen ihn nicht unbe-dingt jünger aussehen. Er sagt, er kümmert sich gerne. Er ge-nießt die Blicke der anderen, denn ER lässt sich auf eine Be-hinderte ein, führt sie sogar in ein Café aus! Er mag kluge Frauen, doch meine Gedanken driften wieder ab. Ich bin die ewig Sitzende! Die stolze Königin auf dem rollenden Thron. Mein Rollstuhl ist ein wildes Pferd! Ich bin alles, aber kein Sozialprojekt! Ich habe keine Angst mehr vor der Angst mich einzulassen. Manchmal treibt mich auch die Einsamkeit an. Ich weiß, ich muss mich bewegen, doch ich darf wählen. Wer sagt, dass ich in einer schlechteren Position bin, nur weil ich im Rollstuhl sitze, der kennt nicht mein wildes Herz! Ich bin eine mutige Frau, selbstbestimmt und frei, frei zu wählen! Ich verlasse den Mann mit dem raumgreifenden Bauch und lächle in mich hinein. Die Welt zeigt sich auch um Mitternacht von ihrer schönen und schlauen Seite!
Epilog:
Ich hab nie aufgehört zu träumen,
bin ich zurückgekehrt in mein verbranntes Haus.
Hab aussortiert und aufgeräumt und jeder Träne einen festen Platz gegeben.
Woanders sich Pokale in der Sonne aalen, reiht sich mein Schmerz zu einem großen Eis,
denn ich weiß, das Leben schmeckt manchmal
süß und manchmal mal bitter …