Markus Fegers - Blumenmädchen

Blumenmädchen

Auf der Wiese vor dem Eingang zur Totenhalle hockt eine zierliche junge Frau.
Regungslos.
Was nicht verwundert, kniet sie doch auf einem flachen Steinsockel und ist aus Bronze modelliert. Sehr realistisch gestaltet, detailliert und liebevoll, und annähernd lebensgroß.
Wann immer ich den Friedhof betrete, um nach der letzten Ruhestätte meiner Eltern zu schauen, sehe ich sie dort hocken, offensichtlich in Gedanken, vielleicht in ein Gebet vertieft, vielleicht in Erinnerungen versunken.
Ihre linke Hand, dicht an ihrer Wange, wirkt, als wolle sie gleich den müden Kopf stützen,
die rechte weist halb geöffnet zu Boden. Legt sie Grabschmuck ab? Zupft sie Unkraut?
Streut sie hungrigen Vögeln Brosamen hin?
Nicht zu erkennen, nicht zu entscheiden.
An einem Sommertag im vergangenen Jahr, die Wiese war frisch gemäht, untersuchte ich den Sockel. Nichts war darauf zu lesen. Weder der Name des Bildhauers noch der Titel der Skulptur. Ich entschloss mich, sie Marie zu taufen.
Weil das einerseits jung klingt, so jung, wie sie ist und sicher immer bleiben wird, andererseits aber verwandt ist sowohl mit dem Namen der Gottesmutter als auch dem jener Sünderin, die nicht nur Ketzer für die Geliebte Jesu halten.
Inzwischen ist Marie mir so vertraut, dass ich beginne, sie mit einem Kopfnicken, manchmal sogar mit ein paar freundlichen Worten zu begrüßen, sobald ich die Totenhalle passiert habe. Ja, ich überlegte sogar schon, ob ich nicht auch ihr einen Blumengruß mitbringen soll, wenn ich das Grab meiner Eltern schmücke, zu Geburts-, Feier- oder Todestagen.
Verrückt?
Vielleicht. Aber auch anderen Friedhofsbesuchern scheint dieser Gedanke gekommen zu sein, denn Allerseelen war Marie von einer ganzen Reihe brennender Lichter eingerahmt und ein bereits welkes Sträußchen Irgendwas lag auf ihrem linken Oberschenkel.
An einem eiskalten Tag um die Jahreswende ertappte ich mich dabei, dass ich halblaut fragte: „Frierst du nicht?“
Selbst das erscheint mir weder seltsam noch verschroben. Halten wir nicht an den Gräbern Zwiesprache mit  Verstorbenen, die uns weder hören noch antworten können?
Die vielleicht längst zu Staub zerfallen sind?
Warum also nicht mit einer Figur sprechen, die anwesend ist und zumindest lebendig erscheint? Berechtigt war meine Sorge auf jeden Fall. Denn Marie ist barfuß, Rock und Bluse wirken wie aus sehr dünnem Stoff geschneidert, ihr Haar fließt offen den schlanken Nacken hinab, Hals und Brust sind nicht durch Schal oder Tuch geschützt.
Ich fragte, doch sie antwortete nicht. Nach kurzem Zögern ging ich zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter. Kalt fühlte sie sich an. Eiskalt. Erschreckend. Ich durchwühlte rasch einen der Grünmüllcontainer neben der Totenhalle auf der Suche nach vertrockneten Kränzen und wurde fündig. Löste mehrere Schleifenbänder und legte sie Marie behutsam wie eine Stola um die Schultern. Sie dankte mir, wortlos, mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Kopfnicken.
Jetzt, in der Karwoche, kniet Marie inmitten eines riesigen blühenden Blumenfeldes und endlich erklärt sich der Sinn ihrer zu Boden gerichteten Rechten eindeutig:
Sie pflückt einen üppigen Strauß aus Narzissen und Osterglocken.
Für wen?
Für Eltern oder Geschwister vielleicht? Für einen zu früh verstorbenen Geliebten?
Für den Herrn, als Gratulation und Glückwunsch zu seiner Auferstehung?
Ich werde mich hüten, sie zu fragen.