Nachwort zu Reinhard Rakows 'atem-pause' von Alfred Büngen

Reinhard Rakow

atem~pause
roman in vier sätzen
Geest-Verlag 2012.

ISBN 978-3-86685-335-5
490 Seiten, 17,50 Euro

 

 

Nachwort
„Und nie erwarte eine Antwort, die hält.“

Ein außergewöhnliches Werk des in allen Künsten beheimateten Reinhard Rakow, zeitgleich erschienen und im engsten Zusammenhang mit sei¬nem Roman in Fetzen ‚Konzert im Schloss’ zu lesen.
Auf den insgesamt tausend Seiten seiner beiden Romane komponiert er ein Weltgefüge der Fragen an die Wirklichkeit, denn mit der klassischen Romanformation kann der Autor zweifelsohne das Hier und Heute, das Gestern und Morgen unserer spätindustriellen Welt- und Gesellschaftsformation nicht mehr erfassen. „Es ist nicht nur eine Frage der Benennung, vielleicht nicht einmal nur der Sicht der Dinge. Womöglich ist, wie wir sehen, falsch. Womöglich ist aber, was wir zu sehen glauben, etwas ganz anderes.“
‚Atem~pause’ setzt bei der Erkenntnis an, dass es – wenn es sie denn je gegeben hat – keine Einheit, keine Geschlossenheit von Welt und Gesellschaft mehr gibt, unter Umständen je wieder geben wird. Damit ist der in vielfachen Variationen vorgelegte klassische Roman, der als Basis ein sich im Laufe der Handlung entwickelndes literarisches Gesamt-Ich auf einem statischen oder sich mehr oder weniger prozesshaft entwickelnden gesellschaftlichen Hintergrund besitzt, nicht länger adäquat zur Wirklichkeitserfassung geeignet, denn das Individuum in heutiger Wirklichkeit lebt in einer Vielzahl gesellschaftlicher Realitäten, lebt zeitgleich in zerrissener, selbst keine Einheit mehr bildender Wirklichkeit. Marcuses Begrifflichkeit des ‚Multiversums’ umfasst treffend diese von Rakow dargestellte Welt.
Das geschlossene literarische Ich wird von Rakow auf¬gelöst in die vielfältig wechselnden Betrachtungsebenen unterschiedlicher Protagonisten, den Schriftsteller auf der Suche nach neuer Autorenidentität, die lebensunfähige Frau, die die Symbole ihres bisherigen Lebens wohlgeordnet in einem Schrank verstaut hat, den Krebskranken, den verunglückten Arbeiter, den sexuell in Versuchung geratenen Lehrer und viele andere, die Rakow allesamt in Situationen der Grundfragen menschlicher Existenz – Leben, Liebe, Tod – führt.
Dass er bei der Gestaltung seines Romans auf die vierstimmige musikalische Satztechnik zurückgreift, verwundert nicht, bietet ihm dies zum einen den Raum, die Wirklichkeitsebene der Protagonisten inhaltlich und sprachlich differenziert horizontal auf der Satzebene auszugestalten, dadurch zum anderen auf der vertikalen Ebene das individuelle Geschehen in einen gesellschaftlichen Gesamtchorus aufzulösen, der nicht länger mehr Antwort, sondern Frage ist, wie wir das Leben und das Leben miteinander entwickeln, bewerten, gestalten oder nicht gestalten.
Rakows Romane führen uns mit der Radikalität ihrer inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung in eine uns anzueignende radikale Fragehaltung an Gesellschaft und an uns selbst. Erst durch die Enttabuisierung aller gesellschaftlichen Wirklichkeiten kann es uns unter Umständen gelingen, die tatsächlichen Gestaltungs¬ebenen individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und zu thematisieren.
Rakow ist mit seinen Romanen ‚Atem~pause’ und dem sich unmittelbar anschließenden ‚Kon¬zert im Schloss’ nicht nur die Entwicklung radika¬ler gesell¬schaftlicher Fragestellung gelungen, vielmehr revolutioniert er durch den Rückgriff auf musikalische, aber auch filmische Techniken (etwa Bruno Bozzettos ‚Allegro non troppo’ (1976) mit der Verwebung verschiedenster Filmstile) auch die Form des Romans. Das jedoch konnte nur gelingen, da er sich nicht scheut, auch sprachliche Konventionen aufzulösen und diese um musikalische, aber auch visuelle Formen zu erweitern, wie er es im Übrigen schon in seiner Novelle ‚Sonnenklirren’ praktiziert. In ‚Konzert im Schloss’ endet dieser Ansatz „in Fetzen“.
Zwei Meisterwerke, die den Leser mit ihrem Erzählstrom und einem sprachlichen Feuerwerk mitreißen, erschüttern und auf eigenes Sein radikal zurückwerfen. Wer glaubt, eine Antwort gefunden zu haben, wird sie noch im selben Moment hinterfragt bekommen.

Alfred Büngen