Nikolas Wollbrink, Phantomschmerz

Nikolas Wollbrink, 18 Jahre, Lemgo
Phantomschmerz

Wenn er aus dem Fenster spähte, welches häufig zur Hälfte vom Rollo bedeckt war, dann sah er des Abends die Sonne blitzen. Das kleine Bächlein, welches zu weit entfernt war, um es zu erkennen, war im Boden verschluckt, und irgendwann, ja man hätte meinen können, es wären Monate vergangen, da zogen Wolken von fern her und bedeckten den Blick, den er immer wieder aus dem Fenster warf. Jeden Abend schaute er hinaus und ging dann schlafen. Er schaute und schlief jeden Tag. Bäume ragten um das Bächlein, welches in der Ferne verlief, und sie standen gerade und hoch und ihre Äste hingen schlaff, als hätten sie vorher wild um sich geschlagen und wären nun erschöpft. Eine kleine Mauer verlief dort den Eingang entlang, aber er erblickte sie kaum, da sie so weit rechts stand, dass er den Kopf bewegen musste, um sie überhaupt zu erkennen. Es hat Tage gegeben, da hätte er wohl kaum geglaubt, dass es diese Mauer gab.
In den ersten Wochen dachte er nie, dass es wahr sei. Wieso sollte er auch? Sein Leben hatte sich wohl kaum maßgeblich verändert. Aber jeden Morgen wachte er auf und setzte seine leere Hülle vor das Fenster und erkannte das gleiche Bild wie sonst jeden Tag. Nicht mal die Jahreszeiten oder das Wetter schienen sich zu ändern. Und dann, wenn er zu viel dachte und der tägliche Blick seinen abgestumpften Reiz verloren hatte, da übernahm häufig die Trauer, und statt zu denken, fühlte er nur. Wenn er aus dem Fenster schaute, sah er ihr Gesicht. Er weinte nicht. Er legte sich nur wieder schlafen, vergaß, erwachte und schaute wieder aus dem Fenster. Jeden Tag.
Man hätte denken können, dass die Familie um ihn da sei und versuchte, ihn aus seinem Loch zu ziehen. Aber sie wa-ren schon immer so weit entfernt, sie erkannten gar nicht, was passiert war. Es war schon immer still um ihn, für sie eine Stille; für ihn eine stille Liebe. Aber Stille. Früher pfleg-te er es rauszugehen, na und? Worin bestand schon der Unterschied zwischen dem Rausgehen und Rausschauen? Se-hen tat er letztendlich die gleiche Ödnis, und wenn er sogar die Kraft aufbrachte, seinen Kopf zu bewegen, dann konnte er sogar die Mauer erkennen, hinter der sich die Einfahrt verbarg, aus welcher seine Familie jeden Morgen verschwand und jeden Abend eintraf.
Also nein, niemand sah ihn, er sich selbst nicht und auch kein anderer. Aber das war nicht immer so.