Reinhard Rakow - Jahreswendgedichte

Das war das Jahr

Das war das Jahr. War wieder voll von Morden
Katastrophen, Wundertaten, Jubel- auch und Trauertagen
Menschen ohne Hab und Güter, Männern in gestärkten Kragen
Die gelangweilt Gelder zählen, die sie hinterzogen haben
Vor dem Zugriff des Finanzamts, derweil sich an Kursen laben
Kriegsgeräteproduzenten aus der Reichen Welt, dem Norden.

Das war das Jahr. War wieder voll von Schwaden
Aus Kühlregistern, Auspuffrohren, Schornsteinschloten
Bränden, die Urwälder fraßen, da sie hoch zum Himmel lohten
Der, in seiner Haut durchlöchert, nicht mehr spannen mag den Bogen
Über Pole, zwischen denen unbelehrbar sich vermehrend Menschen wogen
Gleich der Flut, die stetig ansteigt und bedroht des Lebens Faden.

Das war das Jahr. Ein Jahr wieder für die Annalen
Als Zahlenpunkt auf einer Reihe gegen Endlich
Ein Jahr vertaner Chancen, unverständlich
Den Fehler mit dem Fehler trumpfend
Das dumpfe Menschentum abstumpfend
Gegen den Niedergang und seine Qualen.

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Sylvesterblatt

Und in der Zeitung steht geschrieben
Von dem was war im letzten Jahr
Wer wen wie vor sich her getrieben
Wo Monster nach dem Urteil blieben
An wem Kritiker sich rieben
Zu welcher Zuschauer Belieben
Zwei bildeten ein Paar

In Anzeigen wünscht man viel Gutes
Besonders dem, von dem man will
Dass er viel kauf´ und frohen Mutes
Schlechtes vergess´ und schweiget still

Still schweigen auch die Redakteure
Sie sind zum Schweigen angestellt
Als Feigenblatt das ehern schwöre
Stets zu verbergen wirklich Welt

In ihren tollen Fotoreigen
Lächeln die Schönen voller Huld
Die Zeitungstexte aber schweigen
Zu Geld und Macht und Macht und Schuld

Die Nachrichten, vorwiegend heiter
Gelten dem Schnee, mehr noch dem Sekt
Dem Feuerwerk, ´nem Glückesreiter
Und wann er wohl in welcher steckt

Die Katastrophen sind heut´ feiner
Und farbenfroh illuminiert
Todesnachrichten fallen kleiner
Die Jubelbotschaft dominiert

Die bunten Bildchen werden bunter
Die fetten Zeilen nehmen zu
Mit dem Niveau gehts weiter runter
Und mit dem Bouleveard aufs Du

Schau in der Zeitung steht geschrieben
Was kommen soll im nächsten Jahr
Wo Böller bei Nordwest-Wind stieben
Und wie es wird mit niedern Trieben
Und ist, vor Kam´ras sich zu lieben
Nach dem Gewinn der richt´gen Sieben... —
Nicht aber: Was man schreibt nach wes Belieben
Nicht: Dass es was es war geblieben
Nicht: Dass was kommen soll längst war.

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dezembervorstadt, vor abend, regen

es regnet. radfahrer schieben sich schweigend
durchs bild der ausfallstraße, verfluchen die wagen,
die sich ihnen nähern, dreckwasserdusche,
entfernen — stumm stampfen sie an
gegen den waagrechten wind, hinter den hecken
wirkt´s wie gezogen vom gängelband
anonymer befehle... die münder
vernäht, durchfroren, durchnässt, retten wir uns
in eine schneise, die ein hausquader schlug ohne fenster,
eingetopft in die blauschwarze ödnis vor stadt,
dieser stadt, deren röchelnder atem sich eint
mit dem zittern der schaufensterscheiben
neben den trassen der autobahnen,
dem geschepper müder vorabendzugg´leis,
dem gestrulle von kneipengängern, tränensackschwer, abgefüllt,
dem gähnen der wirte, der barfraun,
dem rasseln sich schließender jalousien,
diesem zischen der guillotinen der anständigkeit,
dem harten aufprall,
dem rollen der köpfe,
dem gleitenden sanftmut zuschläfriger lider,
den vornächtigen träumen, ihrer gewalt,
dem brausen in fallrohre gezwängter wolken,
den jagenden pulsdrums der sanitäter,
dem rauschen des blutes, das ausgänge fand,
einen, weit offen, zwei..., einen...
offen...
weit...
offen...
dem rauschen, dem rauschen...

nachweihnachtswahnsinn.
fischenges gedränge in den kanälen.
die wirtschaft erbricht sich sauer, ausdauernd,
verfehlte geschenke eintauschen gegen sylversterböller,
gegen bröckchen von frischfleisch, gammel, fischmehl, pommes und majo,
in gelbrotem sumpfbrei, mit mantel, hut, ohne, in flächigem regen,
rote filzmützen mit weißen bommeln, konfettiregen, champagnerregen,
dicht an dicht kaulquappengeschnappe
nach luft, luft!, luft!, nach nitro~glyzerine,
nitro~mentholzigarettengerüche, chemie-aromen,
oliven, rosen, rosenholz, sandel, knoblauchschwadengelage,
billiges pils, stinkendes wasser, kaltschweiß und harn, motorölmonturen, backstubentürlüfte, kalt schweiß, kaltregenwäsche, der hintermann
schiebt, die frau nebenan rudert mit stämmigen kiemen.
geschwommen wird man, geschoben, gestoßen,
geschlagen, augapfelgefährdende
regenschirmträger nutzen den vorteil, weiter,
immer nur weiter. der regen macht beine, macht
beine, uns, der uhr in den köpfen, sehr,
sehr lange beine,
wir eilen und fluchen, weiter,
wir holen aus, unsere
sehr langen beine schwingen
wie lange pendel der uhr und
die uhr tickt, weiter, immer nur weiter,
weiter, der regen, weiter, nur weiter,
der regen gießt
uhren nasssand ins getriebe,
rostsand ins getriebe, rostschmerz in die köpfe,
pass bloß auf, dass du nicht kalt wirst,
ist schon passiert, hust´mich nicht an...
gebrochne dachrinnen, nasskalte ergüsse,
sturzgüsse, ein sterbender spatz
im fall niagara, der regen,
blaunackt,
der regen gießt
weiter, immer nur weiter, weiter,
nasskalt nur weiter,
dinner für einen,
dicht an dicht, weiter,
immer nur weiter,
bitte nicht stolpern,
über den löwen, nicht,
die fresslust, sie stoppt nicht,
die rolltreppe stoppt nicht,
das förderband stoppt nicht,
die fleischwelle stoppt nicht,
flutstraße, fleischstraße, die straße
ein nadel~

öhr,

kaulquappenverstopfung.
kaulquappengeschnappe,
gedränge, verlotterter kiosk, tropfblattzeitungshöhle,
litfasssäulenmuseum, pitschpatschpfützengeschwader, rostgitter,
gitterschranke im schwiemel der
unterführung, bahnunterführung,
granitschädel, granitschädel granitschädelgranitschädelgranitschädel
granit granit granitgranitgranitgranitgranitgranitgranigranit
granitnitnitnitnitnitnitnitnitnitnitnit~
halt, ampelhalt, eine mauer,
ausgebrannte schaufenster, designergeschirrbruch,
schwarzspinnengraffitis, lichthupengeblitze, stoßstange,
stange an stange, zange an zange...
zangengeborene zitterdröhnrohre,
rauch quillt
aus den mündern,
uns aus den mündern
und regensturzbäche, wir sind
uns unser krematorium, wir sind
uns eiland, insel im strom~schlag,
rettung, rasch
rettet die insel, rettungsboot,
rettung im stromrausch,
rettung im kaufrausch,
rudern, immer nur rudern,
rudern und brennen, brennen
die eile,
eile und flüche,
eile und flüche,
eile und flüche,
die uhr.

wir sind am ziel. der himmel öffnete
fahrstuhltüren. eine büroflucht,
nadelfilzseegang, vorwinter~
stumpfe halogendimmer.
gefilterte luft, blütenaromen.
mozart von der decke,
lasierte wände.
ikearegale.
ein leerer stuhl. die uhr
die uhr
in den köpfen
atmet erleichtert

weiter,
immer nur weiter,
weiter,
immer nur weiter.

 

Reinhard Rakow

geb. 1952 in Gelnhausen, lebt und arbeitet in Berne/ Wesermarsch als  Maler und Autor.

Autor (Romane, Novelle, Gedichte), Herausgeber (Anthologien der Berner Bücherwochen u.a.), Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, Feuilletonbeiträge zu Musik, Kunst, Literatur und Theater.

Besuchen Sie unbedingt seine täglich aktualisierte Webseite http://www.reinhardrakow.de

 

Im Geest-Verlag erschienen:

 
Trotz alledem - Anthologie zu den Vierten Berner Bücherwochen
Manche schlafen ein mit der Katze - Ein Lesbuch für die Wesermarsch