Renan Demirkan - eine Nachbetrachtung der Veranstaltung der Veranstaltung mit SchülerInnen der BBS Brake

Auf Augenhöhe
Statt eines Nachworts

Demut, die zweite. Einhundertachtzig SchülerInnen der BBS Brake, junge Menschen zwischen 16 und 30, Wirtschaftsgymnasiasten wie BEG-ler, künftige Altenpfleger-, Techniker- oder FlugzeugbauerInnen halten gemeinsam den Atem an. „Was macht ein Baby als Erstes, wenn es auf die Welt gekommen ist?“, hatte Renan Demirkan gefragt, war mit dem Mikro durch die Reihen gegangen, Antworten einzuholen. Als ihre Tochter auf die Welt kam – „Kaiserschnitt“, verrät sie – strampelte die, „krebsrot angelaufen, mit den Ärmchen, die Hände zu Fäusten geballt.“ Warum Fäuste? Warum machen alle Babies der Welt, ob schwarz oder weiß, ob gelb oder rot, ob reich oder arm, groß oder klein, eine Faust? Weil, beantwortet sie die Frage selbst, weil ihnen, das haben Forscher herausgefunden, der Affengriff ins Fell der Mutter ins evolutionsbiologische Stammbuch geschrieben ist: „Wir sind als soziale Wesen geboren. Wir suchen Halt. wollen Nähe, wollen greifen, unser Gegenüber begreifen, einen anfassen, lieben, Liebe empfinden.“

Vier Grundsätze hätten ihr Leben geprägt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, „Sehen mit den Augen des anderen“, Goethes Gedicht über die Macht der Liebe, „Woher sind wir geboren? Aus Lieb (…)“, Nietzsches Wort über das Menschlichste: Den anderen nicht der Scham aussetzen. Renan Demirkan, die große Demirkan, Theater und Film, Goldene Kamera und Bundesverdienstkreuz, PEN-Mitglied mit zehn Büchern, begibt sich mit ihren ZuhörerInnen auf Augenhöhe. Schämt sich nicht, auch solche ihrer Identitäten preiszugeben, die andere unter der Decke halten: Frau, 66, die Haare gefärbt, eine geschiedene Ehe hinter, den neuen Freund vor sich, Liebhaberin, Geliebte. Soviel Nahbarkeit öffnet Türen. Wenn sie durch die Stuhlreihen jumpt, um Einzelne um Preisgabe ihrer Identitäten übers offene Mikro zu bitten, verweigert sich niemand; selbst der sechzehnjährige Schlacks, dem die Situation anfangs sichtlich unangenehm ist, wächst schließlich über sich hinaus und empfängt stolz den Applaus des sensibel mitfühlenden Publikum. Der siebzehnjährige  Muslim aus Mosambik kommt ebenso zu Wort wie die vierunddreißige Mutter aus Kasachstan, und der blonde junge Mann aus der Nachbarschaft, dessen sehnlichster Wunsch „Weltfrieden“ ist, ebenfalls.

Renan Demirkans großes Thema ist Respekt, Respekt von lateinisch „respicere“, zurück~sehen, dem, der dich anblickt, den Blick zurück schenken, sich auf die Höhe seiner Augen begeben. Nichts anderes verlangt jeder Mensch vom anderen, der Gefangene vom Wärter, die Frau vom Mann und umgekehrt, der Ankömmling vom Ansässigen, der Migrant vom „Biodeutschen“: Respekt! Respekt! Respekt und nicht etwa Toleranz, diese huldvoll herablassende Geste derer, die die Macht haben und sie behalten wollen. Tolerare, lat., heißt auf deutsch: ertragen, erdulden, und signalisiert in Wahrheit die  alle Über-/Unterordnungsverhältnisse ausmachende Distanz der höheren zur niederen Kaste: Ich toleriere dich, solange du dies und das tust oder nicht tust, solange du dich gehorsam und willfährig gerierst. Solange du mir vom Halse bleibst. Toleranz ist ein Begriff der Kontrolle, des Abstands und der Separierung, des Abscheidens und Ausschließens, Respekt hingegen der Mechanismus, die Haltung, die das Verbindende sucht und das Verbindende zulässt: Schau mich an, erkenne mich in meinen Identitäten, und du merkst auf einmal, wieviel Gemeinsamkeiten wir alle haben: du als Sitzengebliebene, ich als Sitzengebliebe, du als Mensch, der Träume hat, ich als Mensch der Träume hat, wir als Töchter von Müttern, wir auf der Suche nach Halt, nach Geborgenheit, wir mit der Faust, dem Griff ins Fell der Welt, du als Mensch, ich als Mensch.

Mit einer Intensität, vor der es sich geziemte, ins Knie zu sinken, verleiht Demirkan – sie erteilt an einer Europaschule Demokratie-Unterricht – ihrer Botschaft Nachdruck: Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und zwar die Würde jedes Menschen, egal, woher er stammt, ob aus Deutschland, ob aus Syrien, ob aus Afghanistan, oder wie sie, für die ersten sieben Jahre ihres Lebens, aus der Türkei.

Zwanzig Jahre engagiere ich mich für Kultur, organisiere ich Veranstaltungen. Noch nie jedoch habe ich eine Veranstaltung miterleben dürfen wie diese, in der sich Emotion und Spannung über eine Stunde lang in schwindelerregender Höhe erhalten, bei der junge Menschen dermaßem konzentriert und zugewandt zuhören. Immer wieder kehrt Stille ein, etwa als Renan Demirkan ihr Gedicht „Heimat“ vorträgt: „Heimat ist nicht mein Problem … sondern die Frage: Wo werde ich liegen? Und neben wem?“  BerufsschülerInnen, die einem Gedicht lauschen wie einer Offenbarung. Kaum kann ich es fassen.

Reunhard Rakow