Silvia Berger, München - Welt in Fetzen (Rezension zu Reinhard Rakows 'Konzert im Schloss' und 'atem-pause')

Silvia Berger, München
Welt in Fetzen

Die japanischen Maler haben sie erfunden: Bilder, wo auf weiter Landschaft viele einzelne Szenen dargestellt sind; Wolkenfelder trennen die Szenen – man selbst ist der Jemand, der über dieses Tableau schaut und da, wo die Wolken aufgerissen sind, wie zufällig das erblickt, was sich begibt, wohl wissend, dass auch vieles verborgen bleibt. Wie beim Schauen durch Wolkenlücken auf die Welt hinunter fühlt man sich beim Lesen des Doppelromans „atem-pause“ und „Konzert im Schloss“ von Reinhard Rakow. Die Welt, die da in Szenen aufblitzt, ist eine düstere und gebrochene. Meist ist es die Welt der in Deutschland nach dem Krieg Geborenen, die, gebunden etwa an die deutsche Last, wie verloren und verirrt diese Landschaft bevölkern, eine Landschaft, die selten schön und erschreckend oft abstoßend wirkt.

Rakow nämlich malt seine Panoramen bezwingend. Die Sprache der Romane ist gewaltig, ist mehr als nur Erzählen, verursacht ein Miterleben-Müssen. Es ist, als ob dort Dämme brechen und man als "teilnehmender" Betrachter mitgerissen wird im Rhythmus der Silben, Wörter und Sätze. Oder auch herausgespült wird aus dem Strom, nicht mehr mitgenommen und gestrandet für den Moment. Doch der nächste Anlauf lohnt. Vieles hakt sich fest. Man wird es nicht mehr los werden wie "Bruno“, die Var. XVIII der "atem~pause", die einem den armseligen Protagonisten in seinem So-leben-Müssen -- in Armut, alkoholkrank, ohne Ausweg außer ins Sterben -- in nahezu unerträgliche Nähe rückt. Oder aus "Konzert im Schloss" das Kapitel „Dass alles so rein bleibt“: Man fragt sich, hat man jemals etwas gelesen, was das Leiden und Gequältwerden, das Quälen und das schreckliche Antun in einer solchen Dichte und Konsequenz, in solcher Unausweichlichkeit und in einem so realen und ganz durchschauten Schauplatz aufzufalten wusste wie dieser Text? Hier, in dieser Geschichte einer tragisch einander verketteten Bauersfamilie, ist das Eindrücklichste  die Gänze des Verfehlens von Sein, und dieses Verfehlen beginnt da, wo die schwache, ja schwächste, Kreatur missbraucht wird in der Hoffnung, auf diesem Missbrauch ein bisschen Gelingen von Leben zu bauen. Selbst die Lichtblicke scheinbarer Nähe müssen sich notwendig verdunkeln. Wie könnten hier Täter und Opfer voneinander unterschieden werden, wie Dummheit und Blindheit beendet, Begierde und jämmerliches Glücksstreben überwunden? Ein unglaublicher Text, weil er so schrecklich wahrhaftig und glaubhaft ist.

„Was sind wir Menschen doch?“ Die der „atem-pause“ vorangestellte Frage durchzieht als Leitmotiv beide Romane. Als Antwort drängt sich auf: einsam, grässlich einsam und das trotz all des atemlosen Kämpfens um Bestehen und um ein bisschen Nähe.
Nein, das Bild unter den Wolken ist kein schönes. Es zeigt die Welt in Fetzen. Und so zerreißt Rakow sein "Konzert im Schloss", den zweiten Roman des Duos, denn auch buchstäblich in Fetzen. Selbst die Sprache zerbricht, das Schriftbild splittert, die Sätze, die Wörter zerfallen.
Das alles ist keine Unterhaltung. Sich davon anrühren zu lassen, bedeutet, ohne jegliche Selbstschonung in die Abgründe des Menschseins zu schauen, sich in der eigenen Weltsicht bis in die Fundamente erschüttern zu lassen. Was den Leser dann von Szene zu Szene treibt, von Einblick zu Einblick ist die Sprache, die wie aus gebrochenen Dämmen strömt, mitreißt und als variierend und virtuos eingesetztes Instrument, zwischen Lyrik und Prosa changierend, unmittelbares Erleben inszeniert.

Bieten die Wolken, das Nichtgezeigte, einen Trost, Pausen des Atemholens? Auf den japanischen Bildern sind die Wolken golden. Beim Lesen ermöglichen die Pausen, das Nichtgesagte zwischen den einzelnen Texten, Momente des Innehaltens, in denen der Leser nicht mehr nur Beteiligter, Mitgerissener und Mitgemeinter ist, sondern als wahrnehmend reflektierender Zeuge eine neue Ebene des Verstehens erreicht.

 

 

 
Berger, Silvia
geb. 1958 in Tübingen, Studium der freien Malerei und Sakralraumgestaltung in München, Zweitstudium Evan-gelische Theologie, tätig als Künstlerin und als Gymnasi-allehrerin (Ev. Religion, Kunst), lebt mit Familie in München. Veröffentlichungen: "Jenseits der Baumgrenze" (Jugendroman mit eigenen Illustrationen) Eos-Verlag 1996, "Mäandern" (in "Grenzerfahrungen", Geest-Verlag 2009) u.a.m.