Stanisław Wygodzki - Einsam auf Warschaus Trümmern irrt

Einsam auf Warschaus Trümmern irrt
meine einzige Tochter umher ...
Vielleicht siehst du sie, vielleicht triffst du sie.
Über die Wiesen der Peripherie
läuft sie hungrig, einsam und friert,
geht durch die Straße, die Chłodna hieß,
kreist vielleicht um die Häuser dort,
an die unser Hof einst stieß.
Aber keinem sagt sie ein Wort.
Bleibt nur allein an der Mauer stehn,
hungrig, zerfetzt und vor Kälte starr.
Bei der Brama Żelazna magst du sie sehn,
auf der Straße, die einst Marszałkowska war.
Bang und verzweifelt irrt sie umher,
einsam, hungrig, und weint;
sie weiß schon: anders wird es nicht mehr,
wenn sie auch immer zum Bahnhof schleicht
– meine einzige Tochter. Sie weint
und flüstert hungernd: „Vielleicht ...“
und hungernd hofft sie vielleicht
auf meine und Mutters Wiederkehr;
und steht bis zum Schluß und wartet im Wind,
bis die Reisenden alle gegangen sind
und sie einsam im Frost zurückbleiben muß,
meine einzige Tochter. – Zählst du zu jenen,
auf deren Weg sie durch Zufall gesandt ist?

Nimm sie zu dir, und sage dem Kind:
Heute noch trockne ich heimliche Tränen
um das kleine, hilflose Mädchen,
das längst in Auschwitz verbrannt ist.

 

 

 

aus:

Stanisław Wygodzki, Tagebuch der Liebe.
Eine Begegnung in Gedichten, Briefen und Inter-views.
Heiser, Dorothea (Hg.),
Vorwort Hans Zehetmair,
Nachwort August Everding.
Aus dem Polnischen übersetzt
von Nina Kozlowski
sowie Bettina Eberspächer, Helene Lahr,
Alfred E. Thoss und Irena Wygodzki.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag, 2005