Udo Scheer rezeniert 'Gottfried Meinholds Roman 'Prag Mitte Transit' in der Thüringischen Landeszeitung
Gescheiterter Weltentwurf: Von Jena bis nach Prag
Unter den diesjährigen Buchneuheiten ist der Prager Frühling von 1968 kein literarisches Thema. Mit einer Ausnahme: Auf den Tag genau am 40. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" durch Truppen des Warschauer Paktes legt der Jenaer Autor Gottfried Meinhold am 21. August den Roman einer ganzen Epoche des sozialistischen Niedergangs vor. Eingebettet in eine Familiensaga entwirft er auf 600 Seiten ein Panorama der ostdeutschen und tschechischen Geschichte zwischen 1968 bis 1989.
In der DDR galt Gottfried Meinhold als Geheimtipp für gesellschaftskritische Science-Fiction. Nach seinem Debütroman "Molt oder der Untergang der Malteker", 1982 bei Hinstorff, erschienen seine Bücher, darunter "Weltbesteigung" und "Sein und Bleiben", nur noch mit mehrjähriger Zensurverzögerung. Zugleich führte der heute emeritierte Professor der Sprechwissenschaften ein Randdasein an der Jenaer Universität. Er hatte den Eintritt in die SED verweigert. Nach 1989 war er als Prorektor maßgeblich an der Umgestaltung der Universität beteiligt.
In seinem Romanepos "Prag Mitte Transit" verbinden sich Erzählkunst und ein Fundus aufschlussreicher Dokumente zu einer einmaligen literarischen Chronik zwischen existenzieller Ohnmacht und Verrat, Widerstand und Aufbruch. Meinholds enormer Erzählstrom zieht den Leser hinein in den obsessiven Entstehungsprozess dieses Romans, in dem sein Alter ego Eckard, wie Meinhold Universitätsmitarbeiter und Schriftsteller, zugleich zum Bindeglied wird. Eckard ist kein Held, aber er ist ein unbestechlicher Beobachter und Chronist, der sich der Gefahren bewusst ist.
Der Schock über den Einmarsch der "Bruderarmeen" entlädt sich in hektischen Aktivitäten. Zusammen mit seiner Frau Edith und dem befreundeten Ehepaar Pierre und Katharina sind sie begierig auf jede Information - vom dramatischen Hilferuf Radio Prags bis zur verzweifelten Rede Dubceks nach der Rückkehr der Reformpolitiker aus Moskau.
Sie stempeln und verteilen Protestflugzettel, immer die Verhaftungsgefahr vor Augen. Auf der Rückfahrt von den Trauerfeierlichkeiten für den Studenten Jan Palach, der durch seinen Flammentod auf dem Prager Wenzelsplatz ein politisches Fanal setzte, wird Pierre mit eingeschmuggeltem oppositionellen Material verhaftet und später verurteilt.
Die nachwirkende Tücke des Systems
Aber auch Eckards Freundschaft mit dem tschechischen Germanisten und Reformanhänger Václav Kohout schärft seinen Blick. Es gibt wunderbar erzählte Impressionen aus dem alten Prag mit seinen Gassen und dem Jüdischen Friedhof, auf den Spuren Kafkas und in die tschechische Opposition. Er wird zum "Postillion d´amour" für Václav und eine sympathische Kollegin aus der DDR, die - wie sich nach Öffnung der Stasi-Archive herausstellt - als IM "Monika" auch über ihren künftigen Mann berichtete. Die nachwirkende Tücke des Systems und die Schwierigkeiten mit der Wahrheit der ehemals überzeugten Stasi-Informantin wird für Eckard zum entscheidenden Anstoß für seine monumentale literarisch-dokumentarische Erinnerungsarbeit. Sein Buch setzt ein, einen Tag nachdem die "Jahrestage" des von ihm hochgeschätzten, am Ende verzweifelten Autors Uwe Johnson nach 365 Kapiteln über 365 Tage am 20. August 1968 abbrechen.
Der Leser ist hautnah dabei, wenn Demonstranten Hakenkreuze gegen die zweite Besetzung auf sowjetische Panzer malen, wenn Freitode in Tschechien und 1976 der Flammentod Oskar Brüsewitz´ die Nervenstränge der Regierenden blank legen, wenn Eckards Sohn als Totalverweigerer des Grundwehrdienstes in die Mühlen des Apparats gerät, wenn 750 000 auf dem Prager Wenzelsplatz im Herbst 1989 die "samtene Revolution" ausrufen, wenn die Berliner Mauer fällt und mutige Leute in Bürgerkomitees die Aktenvernichtung in Stasi-Dienststellen stoppen. Beklemmende Zeiterfahrungen und die kreative Kraft des Freiheitswillens an geschichtsträchtigen Orten von Prag bis Jena, darin eingewoben die Surrealität von Stasi-Akten und zeitlos zutreffender Texte von Kafka, fesseln den Leser ebenso wie eine eingebettete Liebesgeschichte.
Meinhold durchbricht gekonnt strukturiert Zeit- und Handlungsebenen. Beinahe süchtig werden kann man auf jene eingestreuten, den Handlungsfluss aufbrechenden Miniaturen, in denen das fiktive Volk der Kaskadier ein eigenes Wissen besitzt. Wie eine Art Hobbits in der Welt der Diktaturen agieren sie nach eigener Logik, persiflieren die Unfreiheit und entziehen sich der Fremdgewalt. Damit weiten sie den Blick über das Romangeschehen hinaus.
So enthielten Flugblätter in der Welt der Kaskadier oft nur ein Wort oder ein rätselhaftes Zeichen. Die Besatzer wurden unsicher, "glaubten, auf Schritt und Tritt wären ihnen Fallen gestellt, magische Kräfte würden entfesselt ..."
Ein literarisches Zeitgemälde
In einem dieser literarischen Kabinettstückchen, fast am Ende, stürmen die Kaskadier die verhassten Bastillen. Die Wächter lassen sich "entwaffnen, ohne ein Wort ..., sie zogen freiwillig ihre Uniformen aus und zündeten sie an, sie ... brauchten viel Zeit, um zu begreifen, dass auch sie zu den Befreiten gehörten."
Gottfried Meinhold ist ein großer Abgesang auf einen gescheiterten Weltentwurf gelungen und zugleich ein bestechendes literarisches Zeitgemälde.
i Gottfried Meinhold: Prag Mitte Transit. Roman, Geest Verlag, Vechta, 600 Seiten, 20 Euro.
Buchpremiere: 21. August, 18 Uhr, in den Jenaer Rosensälen (Fürstengraben 27).
15.08.2008 Von Udo Scheer
(den Originaltext siehe auf den Seiten Thüringer Landeszeitung)