Ulrich Bernstorf - Die Rettung (Antirassismusaktion - 'Vor allem anderen bin ich Mensch')

Die Rettung


Jason, - Jason hieß er und kam aus England. Sie hatte ihn in Hamburg kennengelernt.
Sie habe sich verliebt sagte sie und nun wollte sie zu ihm nach Amsterdam.
Für mich war es ein Schock. Es tat ungeheuer weh. Seit zwei Jahren waren wir wieder zusammen.
Wir lebten in einem ziemlich wilden Haus mit vielen Wohngemeinschaften im Kreuzberger Baustiel, wohnten aber nicht in der selben Wohnung. Ich fühlte mich so ratlos wie hilflos, würde dies das Ende bedeuten? Denn wir hatten große Pläne: schon seit geraumer Zeit sparten wir für eine lange Reise nach Asien. Sie fuhr. Für ein paar Tage. Nach ihrer Rückkehr wirkte sie verschlossen. Sie erzählte nur dies: Das sie sich ungeheuer erschrocken habe, als in der Wohnung der Engländer plötzlich ein Mann hereinkam, der mir zum verwechseln ähnlich sei. Wir schliefen nicht mehr beieinander. Das könne sie nicht. Doch es war noch nicht vorbei, denn seltsamerweise wollte auch sie an unserem Reiseplan festhalten.
Monate später standen wir an der Ausfallstraße und trampten los. Wir machten noch Urlaub in Griechenland, - dann buchten wir einen Flug nach Bombay. Die Eisenbahn brachte uns nach Norden. In den fensterlosen Waggons kann man das Land riechen. Diese Mischung aus brennender Holzkohle, Früchten, Dung und Urin faszinierte uns. Von der Bezirkshauptstadt ging es mit dem Bus dann nach Westen, in Richtung der Wüste. Schließlich erreichten wir den letzten Ort davor, - einen  wunderschönen exotischen, den Hindus heiligen Ort an drei Seen.

27 Kilometer fällt der Weg steil ab von Jerusalem nach der tausend Meter tiefer gelegenen
Priesterstadt Jericho. Ein gefahrvoller Weg, gesäumt von Zeloten und Wegelagerern.

Wir waren begeistert. Trafen nette Menschen und interessante Mitreisende.  Besichtigten geheimnisvolle Tempel, erklommen die umliegenden Berge und schauten  von dort in die Wüste und auf die Seen. Wir tranken ein berauschendes Getränk das wir nicht kannten und amüsierten uns über die Affen, vor denen wirklich nichts sicher ist. Bisher lief unsere Reise überraschend harmonisch. Nur trieb sie die Sorge um ihre Oma um. Sie war in einem drei Generationen Haushalt aufgewachsen und ihre Oma der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Mich mochte sie nicht und sah in mir nur einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin. Und schon vor unserer Reise ging es ihr sehr schlecht. Um Nachricht von zuhause zu erhalten mussten wir immer schon im Voraus das indische Postamt angeben, dass wir in einem bestimmten Zeitraum ansteuern würden, um unsere Post dort abzuholen. Man konnte auch nur dort telefonieren. So wollte sie unseren Aufenthalt an diesem schönen Ort verkürzen, um schneller etwas von ihrer Familie zu erfahren.

Er war allein unterwegs. Fast den halben Weg hatte er schon hinter sich gebracht, noch vier Stunden – und er würde sein Ziel bei Tageslicht erreichen. Plötzlich standen sie vor ihm. Wehrlos war er gegen ihre Überzahl. Sie nahmen ihm alles und schlugen ihn halb tot.

Ich habe meinen Feind nicht kommen sehen. Manchmal sind die kleinen Tiere die gefährlichsten, bei der Tigermücke ist es ganz bestimmt so. Ich bekam Fieber und fühlte mich schwach. Dann Durchfall und Erbrechen, meist gleichzeitig. Ich hatte das Gefühl mein Kopf passt nicht durch diese Tür. Es wurde schlimmer, ich konnte nicht mehr schlafen, rollte mich nur noch vom Bett, um mich auf allen Vieren zum Abort zu schleppen und ließ mir alle vier Stunden das Bett neu beziehen.
Sie stand dem hilflos gegenüber. Sie konnte nicht den ganzen Tag bei mir bleiben und sie konnte nichts tun. So versuchte sie sich mit der Hoffnung auf Besserung mit den anderen abzulenken.
Meine Fieberträume waren schrecklich, es grenzte an Nahtod- Erfahrung. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, aber irgendwann drängte sie zum Aufbruch. Die Busfahrt war schiere Quälerei, - Nie ging es mir schlechter.

Nun kam zufällig ein Priester des selben Weges. Er sah den Mann liegen und machte einen Bogen um ihn. Sein Zustand verschlechterte sich, - er verlor Blut. Nach einiger Zeit kam ein Levit. Doch auch der ging vorbei ohne sich zu kümmern. Vielleicht hatten die Frommen Angst, sich an einer Leiche zu verunreinigen.

Schweißnass und mit zitternden Beinen versuchte ich, einen Schritt vor den anderen zu setzen.
Mein Rucksack schien aus Blei zu sein. Es war heiß. Während wir sonst zielstrebig auf Herbergssuche gingen, war nun das Postamt unser erstes Ziel. Doch das konnte ich nicht mehr schaffen. Am Zaun eines Vorgartens setzte ich den Rucksack ab und mich auf den Gehsteig, lehnte mich an den Zaun und sagte ihr, halb ohnmächtig, dass es hier für mich nicht mehr weitergeht.
Blut fiel mir aus der Nase und den Ohren, und ich wünschte nichts mehr als das Ende meiner Qualen.

Doch kam da ein Mann aus Samarien. Als er den Überfallenen sah, hatte er Mitleid. Er behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und machte ihm einen Verband. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier und brachte ihn zum nächsten Gasthaus, wo er sich um ihn kümmerte.

Die Frau kam aus ihrem Haus und ging zum Zaun ihres Vorgartens. Sie erblickte den blutenden Mann und seine hilflose Begleiterin. Sprach etwas, das ich nicht verstand. Sie rief etwas ins Haus. Als nächstes erschien eine andere Frau, ihre Schwester wie mir schien, und kümmerte sich um meine Freundin, - brachte ihr Tee und sprach beruhigend auf sie ein. Dann kam die Frau aus dem Haus zurück mit einer Waschkumme. Behutsam zog sie mir das vollgeblutete T- Shirt aus und wusch mich. Leute blieben stehen und starrten uns an. Dieses Land ist so bevölkert. Nach zwei Minuten sind es zwanzig. Nach fünf gut Hundert. Sie ging wieder hinein und kam mit einem frischen weißen Bürohemd ihres Mannes zurück und zog es mir an. Wie durch einen Nebel hindurch fragte ich sie, was ich ihr dafür geben kann, - doch lehnte sie das rigoros ab. Dies sei nun mein Hemd. Dann ließ sie nach dem Scooter Taxi rufen. Sie ging hinüber zum Fahrer, gab ihm eine abgezählte Summe Rupees und sprach entschieden und streng mit ihm. Mein Eindruck war, dass sie ihm mitteilte, das er uns für exakt diese Summe zu einem bestimmten Arzt fahren solle, - und dass ihr keine Klagen zu Ohren kommen sollen, - denn sie kenne seine Mutter!

Am anderen Tag gab er dem Wirt zwei Silberstücke und sagte ihm: „Pflege ihn! Wenn Du noch mehr brauchst, will ich es Dir bezahlen, wenn ich zurück komme.“

Missmutig fuhr uns der Scooterman an die genannte Adresse. Normalerweise hätte er von Europäern das vierfache verlangen können.  Der Arzt machte mich rund. Was mir einfiele? Ob ich sterben wolle? Warum ich jetzt erst komme? Das Dengue Fieber sei hoch gefährlich. Ich hätte schlichtweg Glück gehabt. Er hatte heilende Medikamente.
Pikuach Nefesch nennt sich die Regel, die es Juden erlaubt oder gebietet, auch am Shabbat
tätig zu werden, wenn es darum geht das Leben oder die Gesundheit eines Menschen zu retten.
Und solche Ausnahmen kennt jede Religion und jede Kultur. Ich durfte es erleben.
Wer war ich schon? Ein weißer Europäer, ein unberührbarer Kastenloser, ein unreiner Ungläubiger.
Sie darf mich nicht einmal anschauen, und verbergen muss sie ihr Antlitz vor mir.
Berühren darf sie mich schon gar nicht.
Ich weiß nicht, ob sie Hindu oder Muslimin war oder gar eine Christin.
Aber ich weiß, dass ich ihr mein Leben verdanke. Ihren Namen habe ich nie erfahren.

Sie ging allein zum Postamt. Ihre Befürchtung bewahrheitete sich. Ihre Oma war gestorben. Ihre  Eltern wollten nicht, dass sie die Reise abbricht.Wir entzündeten eine Kerze in einer portugiesischen Kirche. Trauer überlagerte alles und wie will man trösten?
Über meine Fiebertage sprachen wir nie mehr. Ich machte ihr keinen Vorwurf.
Wir setzten unsere Reise fort, noch sehr lange Monate, und blieben noch Jahre zusammen.

 

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