Weserkurier berichtet über Besuch von Ministerin Rundt

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Inklusion als Augenwischerei?

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Marlies Winkelheide (links) zeigt Dörte Liebetruth und Ministerin Cornelia Rundt (rechts) die Geschwisterbibliothek.

Lilienthal. Seit über 30 Jahren setzt sich die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide mit Botschaften von Kindern auseinander. 2009 gründete sie in Worphausen die Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei mit über 3500 Titeln, Spielen und einem umfangreichen Beratungsangebot, auch für Geschwister von beeinträchtigten oder behinderten Menschen. Dörte Liebetruth, Referentin von Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt, kennt Winkelheide seit ihrer Kindheit – ein Wahlkampfbesuch, der auch Herzensangelegenheit ist.

Das Klavier liegt platt auf dem Fußboden. Die Ministerin spielt darauf mit weißen Mokassins "Alle meine Entchen". Über die barrierefreie Klaviatur könnten auch Kinder im Rollstuhl fahren, erklärt Marlies Winkelheide und leitet die rot-grüne Politikerschar weiter durch die Geschwisterbücherei. Über 3500 Titel führt die Bibliothek, gesammelte Werke, die die Sozialwissenschaftlerin Winkelheide in drei Jahrzehnten zusammengetragen hat.

Dörte Liebetruth, heute persönliche Referentin von Sozialministerin Cornelia Rundt, kennt die Leiterin und ihre Arbeit aus Kindheitstagen. Als Achtjährige hat sie vor 25 Jahren erstmals an einem Geschwister-Seminar im Niels-Stensen-Haus teilgenommen. Die Idee: nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen gebührt besondere Aufmerksamkeit, sondern auch ihren Geschwistern.

"Schön an den Seminaren war, dass niemand sich groß erklären musste", sagt Dörte Liebetruth. Alle Kinder und Jugendlichen, die sonst aufgrund der besonderen Familiensituation stets auf ihre Geschwister Rücksicht nehmen mussten, standen bei den Seminaren selbst im Mittelpunkt und konnten Bedürfnisse formulieren. "Dinge aussprechen, die sonst nicht gesagt werden können, Gefühle zulassen, für die im Alltag wenig Platz ist" – das sei in Seminaren und Gesprächen möglich.

Wichtig seien Fragen, die die Geschwister beeinträchtigter, behinderter oder chronischer kranker Kinder mitbrächten, erklärt Winkelheide: "Wird mein mehrfach behinderter Bruder von meinen Freunden akzeptiert? Wie erklären wir unserem Kind, dass es anders ist als andere?" Winkelheide spricht am runden Tisch von Lebenssituationen, die vertrackt sind, weil "politisch korrekter" Sprachgebrauch vielfach verbietet, die Wirklichkeit auszusprechen. So blieben Betroffene stumm.

Im Alltag vieler Menschen sei es eben nicht normal, verschieden zu sein, sagt Winkelheide, die in der Inklusionspolitik viel Gleichmacherei und Augenwischerei sieht. Anwesende Geschwisterkinder unterstreichen das. Sonderwege müssten keinesfalls Ausgrenzung bedeuten. Inklusion funktioniere nur mit sehr gut ausgebildeten Assistenzkräften in ausreichender Zahl. Neben Bildungsseminaren und Beratungsangeboten bietet die Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei, die sich ausschließlich über Spenden finanziert, auch Freizeiten, Vorlese- und Kinderbetreuung. Öffnungszeiten und weitere Informationen stehen unter www.geschwisterbuecherei.de und www.stimme-ev.org im Internet.