zum Heiligabend: Olaf Bröcker: Schrott /Erzählung aus seinem neuen Band 'streckenweise farbenblind'
Olaf Bröcker:
SCHROTT
aus seinem soeben im Geest-Verlag erschienen Erzählband: sreckenweise farbenblind
Er hatte es kommen sehen. Aber etwas kommen se-hen heißt ja noch nicht, es verhindern zu können. Und das galt erst recht für ihn.
„Dieses Jahr machen wir Schrottwichteln!“, hatte der Personalratsvorsitzende stolz verkündet. „Jeder bringt etwas absolut Hässliches mit, und dann würfeln wir darum!“ Stolz auf diesen Weihnachtseinfall war er gewesen, stolz auch darüber, dass dieser Einfall neu und noch nie dagewesen war – und tatsächlich waren alle begeistert, oder taten wenigstens so, als wären sie es, so wie er es auch tat.
Und er hatte sich tatsächlich Mühe gegeben; zu Hause, abends, wenn er nicht ins Bett gehen wollte, war er in seinem großen Haus herumgetappt und hatte ein Stück Schrott gesucht. ‚Es gibt so vieles, das ich nicht mag’, dachte er, ‚da wird mir die Auswahl schwerfal-len.’ Aber immer, wenn er sich entschieden hatte für ein absolut hässliches Einzelteil seines Hausrats, hatte er den Gegenstand einige Minuten in der Hand gehal-ten und ihn dann vorsichtig zurückgelegt.
Schließlich war er in ein Geschäft gegangen, in einen von diesen Andenkenläden, die es in seinem Ort doch so oft gab, und hatte ein Geschenk gekauft. Fast zwei Stunden lang war er zwischen den Regalen hin- und hergegangen und hatte so viele Artikel in der Hand gehabt, dass die rundbrillenbewehrten Augen der Ver-käuferin immer misstrauischer blickten und ihn schließ-lich gar nicht mehr losließen. Dreimal schon hatte er ihr immer ungeduldiger werdendes „Kann ich Ihnen bestimmt nicht helfen?“ stotternd zurückgewiesen, und als sie zum vierten Mal kam, hatte er den Knoten durchgeschlagen.
„Ich suche etwas für das Schrottwichteln!“, sagte er etwas zu laut und trotzte sich tapfer durch das Gewit-ter in ihren Augen: „Würden Sie mir etwas für etwa 10 Euro einpacken, ich will gar nicht sehen, was es ist.“
Er erinnerte sich, dass er 8 Euro 90 bezahlt hatte, so eilig hatte es die Frau gehabt, ihn loszuwerden.
Und nun saß er hier in der Runde, gegenüber der neu-en Praktikantin, so war sie ihm jedenfalls vorgestellt worden: „Fängt heute hier an, bleibt aber nicht lange!“ Lange Haare, ziemlich blond, weißes, etwas altmodi-sches Kleid, mehr hatte er nicht wahrgenommen, ihren Namen schon gar nicht behalten.
Und es kam, wie er es hatte kommen sehen. Während die Würfel rundherum klapperten, unterbrochen nur von einem lauten „Vier! Alle die Geschenke nach links weitergeben!“ oder „Sechs! Gib her, nein, das Große natürlich“, merkte er es. Er warf den Würfel schneller und weiter, als könnte er die Runde dadurch ins Ewige verlängern, als könnte er den letzten Schlag verhin-dern, wenn die Uhr abgelaufen war und nach dem Würfeln alle reihum ihre Gaben auspacken mussten. Ein großes Gelächter würde es bei jedem geben, und irgendwann wäre er an der Reihe, und er spürte, wäh-rend er wieder eine Eins warf, wie sein Kopf nach vor-ne sackte. Und er merkte, wie die Haut über seinen Wangenknochen spannte und er die Augen bei jedem Zwinkern etwas zu lange geschlossen hielt.
Aber er konnte es nicht aufhalten. „Alphabetisch!“, hatte der Personalrat beschlossen, und er sah einfach zu, wie die Ersten unter allgemeinem Gejohle ihre Päckchen aufrissen.
Nun war die Praktikantin ihm gegenüber an der Reihe. Sie hielt ein kleines, recht hübsch in dunkelgrünes und rotes Papier gehülltes Paket in den Händen, und er sah zu, wie sie es langsam auspackte. War es seines? Sie sah ihn an, den enthüllten Gegenstand in der Hand haltend, er konnte nicht erkennen, was es war, aber er merkte schließlich, dass alle ihn ansahen.
Ergeben nahm er das Päckchen, das vor ihm lag, in die Hand, das kleinste von allen war es, kaum handteller-groß, und zog das Papier davon ab. In seiner Hand lag ein winziges silbernes Kreuz, mit dem Gekreuzigten daran.
Die Praktikantin stand auf und ging zur Tür, und als sie sich noch einmal umdrehte und ihn anblickte, meinte er zu sehen, dass sich im Luftzug ganz leise ihre Flügel bewegten, und dann war sie weg.