Vorstellung der Geschwisterbücherei in Worpshausen

Konkurrenten, Sparringspartner, Liebende

In Worphausen bei Bremen beschäftigt sich eine ganze Bücherei nur mit

Geschwistern –

01.03.2012

 

Von Dieter Sell (epd)

 

Mal halten sie wie Pech und Schwefel zusammen, mal zanken sie sich bis

aufs Blut: Die Literatur ist voller Geschwistergeschichten. Bei Bremen

widmet sich eine eigene Bibliothek dem Thema. Auf den Spuren einer

schwindenden Spezies.

 

Worphausen/Kr. Osterholz (epd). Liebe, Hass, Mord und Totschlag. Wenn es

um Geschwister geht, dann geht es um große Gefühle. Dafür steht mit Kain

und Abel der erste Brudermord der biblischen Geschichte. Dafür stehen

auch Thomas und Heinrich Mann, geniale Literaten, die sich spinnefeind

waren. Oder Aschenputtel und ihre bösen Stiefschwestern. Diese und

tausend andere Geschichten bietet eine Bibliothek, wie es sie in

Deutschland kein zweites Mal gibt: Die Sozialwissenschaftlerin Marlies

Winkelheide (63) hat in Worphausen bei Bremen eine "Geschwisterbücherei"

gegründet.

 

Tausende Titel umfasst die seit 2009 bestehende Bibliothek mit Werken,

die größtenteils aus Winkelheides persönlichem Besitz stammen. Die

Bücherei hat sie nach dem polnischen Arzt, Kinderbuchautor und Pädagogen

Janusz Korczak (1878-1942) benannt, der für sie leuchtendes Vorbild ist.

Gesammelt hat sie Bilder- und Ratebücher, Märchen, Romane und

Erzählungen, Biografien und natürlich Sachliteratur. Im Mittelpunkt

immer Geschwister, einige hundert Regalmeter lang. Gerade wird der

Bestand für einen Online-Katalog digitalisiert. Finanziert wird die

Bibliothek von privaten Spenden und Stiftungsgeldern.

 

"Ein besonderer Schwerpunkt sind Kinder- und Jugendbücher, die sich mit

sozialen Fragen befassen", sagt Winkelheide, die seit 30 Jahren in

Seminaren mit den Geschwistern behinderter Kinder arbeitet. "Das ist

unser Ort", schwärmt deshalb auch der Bremer Christian Rohdenburg,

dessen Schwester Constanze behindert ist. Der 16-Jährige ist Stammgast

in dem Haus, das längst mehr ist als eine Bücherei. Es hat sich zum

Zentrum für die Geschwisterarbeit entwickelt.

 

Rohdenburg kommt also, um andere Geschwister zu treffen und natürlich,

um zu schmökern. In den Regalen warten Geschichten, in denen es auch um

typische Geschwisterklischees geht: um die hinterhältige Petze, das

verhätschelte Nesthäkchen, die pflichtbewusste große Schwester, das

leidende Sandwichkind.

 

Geschwister sind Sparringpartner, so viel steht fest. Im Streit und in

der Versöhnung versuchen sie sich an den sozialen Leitplanken der

Gesellschaft. "Ihre Beziehung ist eine Spielwiese, auf der unzählige

soziale Kompetenzen erworben werden", sagt der Münchner

Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher Hartmut

Kasten, dessen Werke natürlich auch in der Bibliothek vertreten sind.

 

Doch das Übungsfeld wird kleiner, die Spezies der Geschwister seltener.

Viele Paare hätten gar keine Kinder mehr, sagt Kasten. Und unter den

Familien mit Kindern hätten 51,5 Prozent nur einen Sohn oder eine Tochter.

 

Steuern wir also auf eine Welt verzogener Individualisten zu? Die das

Pech-und-Schwefel-Gefühl solidarischer Geschwister gegenüber den Eltern

nie kennengelernt haben? Keine Panik, rät der 66-jährige Experte Kasten,

der in seiner beruflichen Laufbahn etliche Geschwisterbeziehungen

analysiert hat. Einrichtungen wie Kindergärten seien als soziales

Übungsfeld längst wichtiger. Ohnehin gebe es typische

Charaktereigenschaften von Einzelkindern "so gut wie gar nicht".

 

Tatsache ist allerdings, dass Einzelkinder anders aufwachsen. Sie müssen

oder können nichts oder nur wenig teilen, das gilt für Spielsachen

genauso wie für Kummer oder Freude. Geschwister müssen sich dagegen früh

in Verzicht üben, besonders, wenn es Geschwister behinderter Kinder

sind. "Ein behindertes Kind in der Familie braucht besondere Zuwendung",

sagt Kasten.

 

Christian Rhodenburg kennt das. "Es gab deutlich weniger Aufmerksamkeit,

das war belastend", erinnert er sich an vergangene Jahre. Sein Freund

Max Pagel (14), der einen behinderten Bruder hat, ist in dieser

Situation still geworden, hat lange Zeit kaum etwas gesagt. Das ist

mittlerweile besser, auch durch die Seminare von Marlies Winkelheide und

die Bücherei, zu der zwei Handpuppen gehören: ein böser und ein guter

Drache. Mit ihnen kann Max einen Streit inszenieren, wie er manchmal

auch in seinem Innersten rumort: Sag ich was - oder sag ich nichts?

 

"Das Besondere an der Geschwisterbeziehung ist das Schicksalhafte",

urteilt Entwicklungspsychologe Kasten. Geschwister könne man sich eben

nicht aussuchen, Beziehungen zu einem Bruder oder einer Schwester nicht

beenden wie etwa eine Freundschaft. Sie seien aber ein hohes Gut und

müssten gehegt und gepflegt werden. Mit der

Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei in Worphausen hat Marlies Winkelheide

einen Ort geschaffen, an dem genau das geschehen soll.

 

Die Geschwisterbücherei im Lilienthaler Ortsteil Worphausen ist zu

folgenden Zeiten geöffnet: Montag 12:00 Uhr bis 18:00 Uhr, Dienstag

17:00 Uhr bis 20:00 Uhr und jeden ersten Sonntag im Monat von 10:30 Uhr

bis 16:00 Uhr mit Vorlesen und Kinderbetreuung.

 

Internet: www.geschwisterbuecherei.de; www.geschwisterkinder.de;

www.hartmut-kasten.de; www.deutsche-korczak-gesellschaft.de (epd

Niedersachsen-Bremen/128/01.03.12)

 

 

 

Zur Person: Janusz Korczak – Anwalt der Kinder

 

Worphausen/Kr. Osterholz (epd). Janusz Korczak hieß eigentlich Henryk

Goldszmit und wurde 1878 als Sohn einer jüdischen Anwaltsfamilie im

polnischen Warschau geboren. Berühmt wurde der Arzt, Pädagoge und

Schriftsteller in erster Linie durch seinen Einsatz für arme und

verwahrloste Kinder. So begleitete er die Kinder seines Waisenhauses in

Warschau beim Abtransport in das Vernichtungslager Treblinka, obwohl das

für ihn 1942 den Tod bedeutete. Heute sind bundesweit Straßen, Schulen

und Häuser wie die Geschwisterbücherei in Worphausen bei Bremen nach ihm

benannt.

 

Das Pseudonym Korczak legte sich Goldszmit im Zusammenhang mit seiner

schriftstellerischen Arbeit zu. Er gilt als "Vater der Kinderrechte".

1911 eröffnete er das Waisenhaus, das von den Kindern selber verwaltet

wurde. Es gab ein Kinderparlament und ein Kameradschaftsgericht, in dem

Kinder richten durften. Wer etwas ausgefressen hatte, konnte zu

verschiedenen "Entschuldigungs-Strafen" verurteilt werden. Alle Kinder

hatten eine Aufgabe im Waisenhaus, Ältere übernahmen Verantwortung für

Jüngere.

 

Bis heute werden Kinder manchmal noch als Menschen gesehen, die nur noch

nicht erwachsen sind. Dagegen lehnte sich Korczak auf. Er war der

Auffassung, dass Kinder eigenständige Persönlichkeiten und nicht nur

Anhängsel der Erwachsenen sind. "Kinder werden nicht erst zu Menschen,

sie sind es schon", lautete seine Überzeugung.

 

Er stand für einen einfühlsamen und anregenden Erziehungsstil und sagte:

"Wenn du Kinder erziehen willst, musst du dein eigenes Leben reich

gestalten. Lies, gehe ins Theater, liebe die Natur." Als Anwalt der

Kinder verlangte er vor allen Dingen das Recht auf Achtung. Doch erst 70

Jahre später wurde sein Traum verwirklicht, als die Vollversammlung der

Vereinten Nationen im November 1989 die UN-Konvention über die Rechte

der Kinder verabschiedete.

 

Internet: www.deutsche-korczak-gesellschaft.de; Wortlaut der

UN-Kinderrechtskonvention:

http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/358176/publicatio...

(Niedersachsen-Bremen/128/01.03.12)

 

epd lnb sel