Ausstellung im Martin Luther-Haus in Ocholt / Ev. luth. Kirchengemeinde Westerstede
Sonntag, 18.11. 2012 15.00 bis 16.00 Uhr Ausstellung im Martin Luther-Haus in Ocholt / Ev. luth. Kirchengemeinde Westerstede
15.15 Uhr Eräuterung und Vorstellung des Projekts durch Verlagsleiter Alfred Büngen
Im Ocholter Anzeiger vom November 2012 steht unter dem Titel "Brücken bauten sich auf", Volkstrauertag:
Nachdem das neue Gewand, mit dem wir im vergangenen Jahr den Volkstrauertag begangen haben, gut von den Menschen auf- und angenommen worden ist, möchten wir auch in diesem Jahr diesen Tag mit einem angemessenen Rahmenprogramm begehen. Deshalb laden wir herzlich ein:
Um 15.00 Uhr zu einer Ausstellung "Brücken bauten sich auf" im Martin- Luther- Haus. Diese Ausstellung dokumentiert ein Projekt von Schülern aus Bad Zwischenahn, in denen sie sich über zwei Jahre hinweg zusammen mit ihrer Lehrerin Christine Metzen-Kabbe in die Rolle von jungen Menschen
zur Zeit des Nationalsozialismus im Ammerlang hineinversetzt haben.....wir freuen uns, dass an diesem Nachmittag auch der Verleger des Buches, Alfred Büngen, bei uns sein wird.
auf http://www.alliteratus.com/pdf/gesch_ep_th_bruecken.pdf
ist über das Projekt zu lesen
Alfred Büngen (Hg.)
Brücken bauten sich auf
Schüler versuchen zu verstehen –
Ein Projekt zum Thema Nationalsozialismus und Ausgrenzung
Geest-Verlag 2012 • 256 Seiten• 12,00
In einem Beitrag für die "Berliner Zeitung" vom 31.01.2009 schildert die Journalistin Gunda Wöbken unter dem Titel "Ganz normale Ausrutscher" ein Kaffeehaus-Gespräch zwischen ihrem Mann Leo Trepp, dem letzten Landesrabbiner von Olden-burg vor der Shoa, Träger des Oldenburg-Preises der Oldenburgischen Landschaft, und einem jun-gen Pärchen. Trepp – er verstarb 2010 – erwähnt, dass seine Familie und er infolge der November-progrome aus Deutschland hatten fliehen müssen. Tja, entgegnet die Frau, ihre Eltern hätten in den Bombennächten auch sehr gelitten. Das sei schon eine traurige Zeit gewesen.
Sieben Jahre her ist jene Begebenheit, und doch wirkt sie wie von heute. Solche "Ausrutscher", gespeist aus dem Entgleiten von Geschichte, scheinen Regel geworden, nicht Ausnahme. Die aktu-ell dritte Generation des Erinnerns zeichnet sich aus oft genug durch Unschärfen des Verstehens, Neigung zur Geringschätzung und mangelndes moralisches Unterscheidungsvermögen – ein Be-fund, den weder der didaktische Holocaust-Overkill der Vergangenheit noch die gegenwärtig un-terkühlt verkürzende Faktenvermittlungs-Variante sich zurechnen lassen will. Woran aber kranken dann die Versuche, jungen Menschen die Augen für die Vergangenheit zu öffnen? Woran die, ihnen die Einordnung des Geschehenen zu ermöglichen, um sie so vor Wiederholungsgefahren zu feien? Anders gewendet: Was ist zu tun, Erinnerung im Umgang mit dem Nazi-Regime lebendig zu gestal-ten, so lebendig, dass sie das Bewusstsein junger Menschen nachhaltig zu schärfen vermag?
Erstaunliche und erstaunlich profunde Antworten liefert das jüngst im Geest-Verlag Vechta erschie-nene Buch Brücken bauten sich auf. Schüler versuchen zu verstehen – Ein Projekt zum Thema Natio-nalsozialismus und Ausgrenzung. Dieses Buch dokumentiert in lesedienlich zugespitzter Form die zweijährige Arbeit eines Fachleistungskurses zum Thema "Nationalsozialismus und Ausgrenzung im Ammerland", an dem bis zu ihrem Abitur gut zwanzig Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Bad Zwischenahn-Edewecht teilnahmen. Eingebettet in die schulischen Obligatorien – wissen-schaftliche Arbeit im Fach Geschichte, mündliche, schriftliche Leistung –, abgestimmt mit den El-tern und den schulischen Gremien, wurde hier zunächst (neben der Auffrischung vorhandenen Wis-sens) Geschichte von den Schülern selbst durchdrungen beim Besuch historischer Stätten, durch eigene Recherche in Zeitdokumenten, Befragung von Zeitzeugen, Gespräche mit Eltern und Groß-eltern. Bereits der Wert dieser Phase für eine lebendige Erinnerungskultur ist nicht zu unterschät-zen. Er fließt nicht nur aus der Erwägung, dass selbsttätig Erarbeitetes stärker im Bewusstsein haftet als bloß rezeptiv Vorgesetztes, auch nicht "nur" daraus, dass immer weniger Zeitzeugen noch am Leben sind.
Entscheidend war die sich hierbei bietende Chance des Nachvollzuges und der Aneignung auf einer auch emotionalen Ebene. Schon der damit verbundene Erwerb einer "empathischen Kompetenz" wurde von den Schülern als etwas völlig Neues wahrgenommen. Die Schülerin Nina Dierks etwa formulierte in ihrer Nachbetrachtung:
[...] war es trotzdem etwas völlig Neues, einen aufgewühlten, betroffenen Menschen zu intervie-wen, der mit den Tränen kämpfen muss, während man überlegt, wie man die nächste Frage formu-liert und ob man sie überhaupt stellen kann.
So sensibilisert, mit Kenntnissen gewappnet, begaben sich die Schüler auf eine fiktive Zeitreise von 1933 bis in die Nachkriegsära, hierzu versehen mit Rollenbildern von zu Beginn gleichaltrigen Gym-nasiasten, Rollenbildern, die sie sich aus einem vorgegebenen Katalog selbst auswählten, und die im Laufe der historischen Verläufe ihre Zuschnitte oft überraschend änderten. Über das Medium des sogenannten "Kreativen Schreibens", eingesetzt im üblichen Schulalltag wie an eigens gebilde-ten Wochenend-Blöcken, rangen die Schüler schreibend mit "ihren" Rollen, näherten sich ihnen, bemächtigten sich ihrer anhand von exemplarischen Aufgabenstellungen, die sie aus der Sicht des historischen Alter Ego zu bewältigen hatten: Wie mag es für dich als Zwangsarbeiter gewesen sein? Im Park wird eine Bank mit dem Schild "Nicht für Juden" versehen – wie reagierst du? "Du wirst gemustert und für tauglich befunden", "Dein erster Klassenkamerad stirbt im Krieg", "Die Mutter deines Freundes wird drangsaliert, weil sie Kriegsgefangenen etwas zugesteckt hat" und ähnlich lauteten die Aufgabenstellungen. Im Buch lesen sich gerade diese Passagen spannender als man-cher gute Roman, spürt der Leser doch Seite um Seite, wie viel tiefer die Sensibilisierung der Auto-ren greift, je länger sie sich im denkenden und fühlenden Miteinander mit "ihrer Rolle" um Verste-hen bemühen.
Zweierlei wird dabei (den Autoren wie dem Leser) deutlich. Erstens: Versuche, nachträglich einfa-che Schuld- (und erst recht: Nicht-Schuld-) Zuweisungen zu konstruieren, entlarven sich schnell als obsolet, weil das alle Lebensbereiche durchdringende System von Unrecht und Ausgrenzung Ab-weichler und Nicht-Schuldige nicht duldete. Dies herausgearbeitet zu haben, ist eines der großen Verdienste dieses beeindruckenden Projekts: Totalitärer Herrschaft wie der der Nationalsozialisten war es deshalb ein Leichtes, Ich-schwache "Mitläufer" zu Mittätern zu dingen. "Wer sich mit Juden einlässt, kann keine Karriere machen", "Wer Untermenschen unterstützt, braucht sich über nichts zu wundern". Die zynische Kälte, mit der "Winfried II", ein Alter Ego eines Schülers, die Bestrafung einer "Verräterin" kommentiert ("Ein Schuss, und die Sache ist erledigt"), bringt das auf einen be-stürzenden Punkt.
Zweitens: Die Schülerautoren wuchsen an und mit ihren Rollen. Vom vielleicht ein wenig holprigen Beginn über fast geschmeidig routinierte Anverwandlung vollendet sich die Art und Weise der lite-rarischen Fiktionalisierung in einer Qualität der Rollen-Adaption, die den Leser unweigerlich er-greift -- auch, weil er die Ergriffenheit der Schreibenden greifbar spürt. Als etwa "Mareike" ihren "Nachkriegstext" ("Irgendwann werde ich Lehrerin, um christliche Werte zu vermitteln") auf der Buchpremiere in der Aula des Gymnasiums vorlas, mit stockender Stimme, gegen Tränen kämpfend, gab es wohl keinen im Publikum, der nicht mitweinen musste.
Der kleine Geest-Verlag hat sich in den fünfzehn Jahren seines Bestehens eine Ausnahmestellung im Markt erarbeitet, indem er zahlreiche, teils preisgekrönte, Schulprojekte mit Büchern begleitete, und indem er etliche bedeutende Werke zur Geschichte des Nationalsozialismus, zu Widerstand und Opferleid publizierte. Dass Verleger Alfred Büngen bei diesem Buch selbst als Herausgeber fungiert, ist eine Besonderheit nicht nur, weil dies den Wert des Bandes noch unterstreicht. Sie trägt auch dem weiteren Mitwirken Büngens Rechnung, hat er doch nicht nur ein gewichtiges Vorwort und erhellende – nebenbei: mit Quellenangaben reich unterlegte – Kommentare zu den ein-zelnen Fragestellungen verfasst. Büngen war auch, im Zusammenwirken mit Geschichtslehrerin Christine Metzen-Kabbe, Anleitender und Ratgeber im Prozess des Literarischen Schreibens; als kundiger Gesprächspartner stand er den Schülern während des gesamten Projekts Rede und Ant-wort.
Wie sehr die Schüler dies zu schätzen wussten, wie sehr sie zudem von der Aussicht beflügelt wur-den, ihre Arbeit als Buch einer breiten Öffentlichkeit präsentieren zu dürfen: Auch das erhellen die Texte ihrer eigenen Evaluationen, das und einen weiteren Aspekt. Um erneut Nina Dierks zu zitie-ren: Schon in den ersten Stunden ... wurde mir bewusst, dass hier eine ganz andere Seite beleuchtet wird. Nicht zuletzt dadurch, dass das Ganze ortsbezogen war. Ich hatte vorher nichts darüber ge-wusst, was genau damals im Ammerland passiert war, wir hatten immer nur über die Geschehnisse im gesamten Deutschland gesprochen [...]
Die Benennung konkreter Protagonisten statt abstrakter Daten, die Bezogenheit auf ein vertrautes Umfeld statt auf ein großes Ganzes, Konkretheit auch in der Lokalisierung des Handlungsumfelds als Voraussetzungen für ein funktionierendes "Sich-In-einen-Menschen-Hineinversetzen": eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und doch elementar für ein nachhaltiges, weil mitfühlendes Erinnern.
Elementar für das Ziel, "Ausrutscher" und "gedankenloses", geschichtsvergessenes Geplapper für-derhin zu vermeiden – und doch um ein Haar hinderlich für die Realisierung des von Anfang an ge-planten Buches, denn die Firmen vor Ort im Ammerland taten sich schwer, derlei zu fördern. Erst eine maßgebliche Unterstützung der Oldenburgischen Landschaft brach den Bann und half, dieses Buch zu ermöglichen, ein Buch, das die Diskussion um zeitgemäße Formen des Erinnerns in außer-gewöhnlicher Weise bereichert, luzid, intelligent und anrührend zugleich.
Reinhard Rakow