... und du bist raus. Das Leben der Esther Schmidt und anderer Jugendlicher im Nationalsozialismus in der Wesermarsch

Fertiggestellt ist nun der Roman

… und du bist raus!
Das Leben der Esther Schmidt und anderer Jugendlicher im Nationalsozialismus in der Wesermarsch
Ein Romanprojekt von Schülern der Pestalozzischule und des Gymnasiums Brake
In Zusammenarbeit mit: Kultur vor Ort e. V., Berne und dem Geest-Verlag
Herausgegeben von:
Alfred Büngen
Tanja Framme
Kim Karotki

Autoren:
Julian Asche, Filiz Bal, Louis Bergner, Imke Bierbaum, Phill Bliefernich, Alexandra Böner, Pia Bothe, Carmen Cordes, Michelle Dobrowol, Steffen Dwehus, Mouhammed Elmaoula, Erik Folkens, Phoebe Fuchs, Elisa Fürst, Julia Gerloff, Steven Gottberg, Jenny Grimm, Benedikt Groß, Renè Heinemann, Marie Hun-dertmar, Lena Keil, Vivian Kloz, Paul Kramer, Julie Krüger, Marcel Krüger, Ben Kuilert, Marie Lösekann, Dennis Malina, Lukas Meiners, Hanna Oetken, Victoria Ottawa, Antonia Plümer, Gina Porschen, Laura Prehn, Marcel Schnell, Felix Schütte, Dominik Schwarz, Annika Thoben, Athina Troise, Vishnugan Vigneswaran, Pia von Hein, Katharina Weber, Lea Weßling, Oliver Wylega
 

Hier ein Auschnitt aus dem ersten Teil

Ringel, Ringel, Reihe

Montagmorgen. Dutzende von Menschen streben den Geschäften in der Breiten Straße in Brake zu. Brot, Butter, Milch, Fisch, Gemüse – alles für den Haushalt will nach dem Sonntag besorgt sein. Zumeist sind es Hausangestellte und Hausfrauen, nur ganz selten dazwischen ein Mann. Von Ferne sieht man am Anfang der Breiten Straße ein jüngeres, vielleicht vierzehnjähriges Mädchen. Zwischen all den Menschen würde sie kaum auffallen, würde sie nicht auf einer schwarz-weißen Kuh sitzen.
Das Mädchen, Hildegard ist sein Name, wird heute sicherlich zu spät zur Schule kommen, denn der Unterricht beginnt schon in wenigen Minuten. Warum sie zu spät ist? Bei Hildegard weiß man nie so genau, welche Ideen sie gerade wieder hat. Aber was heißt hier zu spät zur Schule, es gibt drei Schulen im Ort. Die meisten Jugendlichen, die in diesem Roman ihre Geschichte erzählen, besuchen die Volksschule Harrien. Dann gibt es noch das Gymnasium in der Kirchstraße, das aber die meisten Jugendlichen nicht besuchen können, weil es doch ganz schön viel Schulgeld kostet. Und es gibt eine Sonderschule, übrigens gleich neben der Volksschule, auf die all diejenigen gehen, die etwas Schwierigkeiten mit dem Lernen haben.
Das hat nicht unbedingt etwas mit dem Geld zu tun, denn Brake ist zu diesem Zeitpunkt eine relativ reiche Stadt. Der Hafen, der Schiffsbau, die Fettraffinerie und auch die Landwirtschaft spülen das Geld in die Kassen der Stadt, der Unternehmen, aber auch der vielen Arbeiter- und Angestelltenfamilien. „Jede dritte Scheibe Brot und jedes zweite Pfund Margarine kommen aus Brake“, erzählt man sich allgemein im Deutschen Reich über die Stadt in der Wesermarsch.
In diesem Buch erzählen Mädchen und Jungen, alle zu dieser Zeit 14 oder 15 Jahre alt, die Geschichte ihrer Jugend, denn es ist eine sonderliche Zeit. Das merkt man in der Breiten Straße an diesem Tag ganz besonders. Überall hängen noch die blutroten Fahnen mit dem Hakenkreuz. Gestern gab es großen Besuch in der Stadt. Reichsstatthalter und Gauleiter Röver war zu Besuch und die NSDAP, die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädel und andere Organisationen bis zu Feuerwehr und Sportvereinen hatten ihm zu Ehren mit viel Blasmusik, Fahnen und Uniformen einen Aufmarsch veranstaltet. Tausende standen am Straßenrand und haben ihrem Gauleiter zugejubelt. Der Bürgermeister hat ihm feierlich die Grüße ‚seiner‘ Braker Bevölkerung überbracht.
Hitler ist vor etwa einem halben Jahr zum Reichskanzler ernannt worden. Gauleiter Röver ist schon mehr als ein Jahr Reichsstatthalter im Freistaat Oldenburg, zu dem auch die Wesermarsch und Brake gehören.



***

Der Alltag der Jugendlichen, von denen diese Geschichte handelt, hat sich eigentlich durch den Sieg der Nationalsozialisten erst einmal wenig gewandelt. Auch nicht an diesem Montagmorgen, als sie jeweils ihren Schulen zustreben.
Esther ist an diesem Morgen schon früh mit dem Fahrrad von Berne nach Brake zur Schule gefahren. Der Weg ist dunkel und nebelig. Es ist noch ziemlich frisch, ja beinahe kühl so in der Frühe, der Weg ist bröckelig und viele Schlaglöcher erschweren ihr den Weg. Der andauernde Regen der vergangenen Nacht hat die Löcher mit tiefen Pfützen gefüllt. In einer Kurve verfehlt sie den sicheren Tritt, rutscht von der Pedale ab, will sich mit dem Fuß vom Boden abstoßen und landet dabei mit einem Mal ungeschickt in einer der grauen Pfützen, sodass ihr rechter Halbschuh sich mit dem schmutzigen Wasser füllt, das die Socke durchnässt. „So ein Mist! Ich Schlemihl!“, entfährt es ihr. „Gleich werden sie mich in der Schule wieder hänseln.“
Esther ist das einzige jüdische Mädchen in der Klasse, wobei sie eigentlich noch nicht einmal weiß, was das ist, eine Jüdin. Jedenfalls weiß sie wenig, eigentlich nichts über ihre Religion. Ihre Mutter ist keine praktizierende Jüdin, hat sie nur einmal mitgenommen nach Oldenburg in die Synagoge. Esther weiß nicht viel über die jüdische Religion und Tradition. Sie ist auch mit 12 Jahren keine Bat-Mizwa, keine Tochter der Pflicht geworden. Auch wenn ihre Mutter darauf besteht, dass sie die jüdischen Feste feiern. Allerdings kennt Esther das eine oder andere jüdische Schimpfwort, hat sie von ihrer Mutter gelernt. Ihr Vater ist evangelisch und arbeitet als Zeitungsredakteur in Brake. Der Weserbote, heißt die Zeitung. Ihre Eltern hatten sich damals in Berlin kennengelernt, wo der Vater studiert, die Mutter in einer reichen, sehr liberalen jüdischen Familie gelebt hat. Da Der Weserbote einen Redakteur suchte, hat es das junge Ehepaar nach Brake verschlagen. In Berne haben sie ein billiges Haus zur Miete gefunden.
Esther ist in Brake geboren. Sie hat sich immer schon eine Schwester gewünscht, aber nicht bekom-men. Zum Glück hat sie in der Schule ein paar Freunde, sodass sie nicht immer allein ist.
Von Berne nach Brake mit dem Rad – ein Bus fährt zu dieser Zeit für die Schulkinder noch nicht – dafür benötigt Esther jeden Morgen fast eine Stunde. Übrigens fährt auch ihr Vater zumeist mit dem Rad. Es besteht zwar auch eine Fahrmöglichkeit mit der Bahn, doch die Familie muss sparen, denn das Gehalt eines Redakteurs ist niedrig genug. Und die Mutter wird von ihrer reichen Familie aus Berlin nicht mehr unterstützt.

 

AnhangGröße
Image icon coverester.jpg496.52 KB