Ullmann, Günter (Hg.): Der Greizer Kreis

Autor: 

Günter Ullmann(Herausgeber).
Der Greizer Kreis
ISBN 3-936389-44-6
12.50 Euro

 

Günter Ullmann (Hrsg.)

Der Greizer Kreis.

Eine Anthologie aus den 70er Jahren der ehemaligen DDR.
Mit einer Einleitung von Udo Scheer.
Zeichnungen von Klaus Tiller.
336 S.
Einleitung des Buches von Udo Scheer
Greiz zwischen den Literaturen

Nähert man sich der kleinen, vogtländischen Stadt Greiz mit ihren 33.000 Einwohnern, geschieht das unweigerlich durch dunkle Nadelwälder.

Häuserhänge wie
von naiven gemalt ...

Am schloßturm
fahnen, ausgehängt nach
ost und west, zwei
taube ohren

...
Wälder, wälder auszuschweigen
das wort



"Erinnerungen an Greiz" nannte Reiner Kunze (geb. 1933) diese Verse.
In der Stadt verlebte er von 1962 an fünfzehn für ihn entscheidende Jahre. Durch ihn bekam das literarische Wort aus Greiz Gewicht. Kunzes Gedichte, in der DDR kaum gedruckt, wanderten in Abschriften von Hand zu Hand. Mancher ging dafür in den Knast. So der Schriftsteller Utz Rachowski aus dem nahegelegenen Plauen: 27 Monate Haft "Wegen Herstellung und Verbreitung eigener Gedichte und solcher von Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und Reiner Kunze."
Das literarische Wort aus Greiz war gefährlich geworden.
Nach Veröffentlichung seiner "Wunderbaren Jahre" trieben ihn die Mächtigen Ostern 77 aus dem Land ..." Gespräche 1977-1993. Die über Greiz verhängte kulturpolitische Eiszeit führte zu einer weitgehenden Isolation in der Isolation.
Zu spüren bekam das der streitbare Schriftsteller und jetzige Landtagsabgeordnete in Sachsen, Dr. Uwe Grüning (1942).
Er zog nach Kunze in die Stadt, in seiner Nische zwischen Naturlyrik und Landschaftsbeschreibung hielt er es nur ein paar Jahre aus.
Anders Hansgeorg Stengel (1922), der in Greiz gebürtige Satiriker und Wortjongleur. Der Hausautor des Eulenspiegel Verlags tingelte als offiziell akzeptiertes Ventil durch die "größte DDR der Welt" und brauchte sich um Zuspruch nicht zu sorgen.
Hart traf die Erstarrung vor allem einen Philosophie- und den Lyrikzirkel. Manfred Böhme (1944-1999) hatte beide ins Leben gerufen. zwischen 1965, seinem nebulösen Auftauchen, und 1977, seinem, für viele unverständlichen Verschwinden, war dieser Funktionär Motor, Lehrer und Enfant terrible des Greizer Kulturlebens. So bot Böhme dem Schriftsteller Jürgen Fuchs in Greiz ein Podium, als für den bereits im ganzen Land Leseverbot bestand. Hinterher verfaßte er in seiner Eigenschaft als "IM Paul Bonkarz" denunzierende Berichte.
Der spätere kometenhafte Aufsteiger an die Spitze der Ost-SPD förderte Visionen eines demokratischen Sozialismus, religiöse Toleranz und Idealismus und führte einen Kern von etwa 10-15 jungen Leuten in ihrer gesellschaftskritischen Sinnsuche zusammen. - Und er bespitzelte sie. Der poetisch begabte Günter Ullmann (1946) übernahm auf seinen Wunsch hin 1971 die Leitung des Lyrikzirkels. Er leitete ihn bis zu seiner Unterschrift unter Protestresolutionen gegen die Ausbürgerung Biermanns und Kunzes 1976.
Noch heute wirkt in Ullmann die Freundschaft zu Böhme nach. Im Gespräch über die tragische Janusgestalt äußerte er: "Böhme wollte die Palastrevolution. Dabei hat er sich die Hände schmutzig gemacht."
Seit seiner Akteneinsicht weiß er, es war Böhme, der dem MfS seine geheimsten Gedanken mitteilte. Und die Vernehmer nutzen diese Information auf infame Weise. Sie trieben Ullmann soweit, bis er in seinem Verfolgungswahn Telefonleitungen zerschnitt und sich im Glauben, sie hätten ihm Abhörgeräte implantiert, sämtliche Zähne ziehen ließ. Er verdächtigte jeden in seiner Nähe, auch seine Frau, der Stasi-Mittäterschaft. Nur einen nicht: Manfred Ibrahim Böhme. Es erschien ihm absurd, denn der war ja der Initiator und Organisator! Nacheinander wurde Günter Ullmann in drei psychiatrische Kliniken eingewiesen. Die Staatssicherheit hatte ihr Ziel erreicht, der "gesellschaftliche Störfaktor" Ullmann schien "liquidiert".
Reiner Kunze urteilt über das schillernde, schizophrene Multitalent Böhme treffend: "Er ist anders als alle Spitzel in meiner Akte. Er hat sich eine Welt geschaffen mit lebendigen Menschen. Er wollte Gott sein."
Regelmäßigen Kontakt mit Kunzes pflegte neben Böhme vor allem Arnold Vaatz (1956), nach 1989 Umweltminister in Sachsen. Die Mehrheit der Gruppe wurde dagegen eher indirekt, durch die Lyrik und Ethik des Dichters beeinflußt. Arnold Vaatz gehörte zum Kern des Kreises, der als "Greizer Kreis" Geschichte machen sollte. Er schrieb Gedichte und Prosa von analytischer Intensität. Aus innerer Überzeugung verweigerte er den Reservistendienst in der Armee und wurde als "feindlich negative Person" zu körperlich schwerer Strafarbeit in der Maxhütte Unterwellenborn verurteilt. Klaus Rohleder (1935), bekannt geworden als "Beckett vom Bauernhof", stieß zu der Gruppe und versuchte sich an satirischen und Kabaretttexten. Sein Antrag auf ein Regiestudium wurde abgelehnt. Böhmes Beurteilung: "Querdenkender Bauer", mag dazu beigetragen haben. Vom offiziellen Kulturbetrieb ignoriert, zog sich Rohleder auf sein Gehöft nach Waltersdorf zurück, veröffentlichte Kinderhörspiele und feilte an einer dem praktizierten DDR-Theater zuwiderlaufenden Dramatik in beckettschem Stil. Für ihn unerwartet kam es 1988 zur ersten Premiere und künstlerischen Anerkennung in Ostberlin. Nach der Wende fanden szenische Lesungen seiner Stücke in Erfurt, Inszenierungen in München und 1994 "Das Fest" mit seiner Doppelpremiere in Gera und Graz positive Resonanz.
Zu dem Kreis zählten von Anfang an auch die Mitglieder der Beat-Gruppe "media nox" (Mitternacht). Der damalige SED-Kulturwächter der Stadt, verfügte gegen sie erstmals 1985 Auftrittsverbot wegen sozialismusfremdem englischen Gesangs. In den 70er Jahren wandte sich die Band der Sonderstufe dem Free-Jazz zu. Höhepunkte bildeten die Auftritte bei den internationalen Jazz-Tagen und die durch Manfred Böhme rezitierten Jazz-Gedichte Jens Gerlachs. 1977, nach ihrer Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, belegte man die Gruppe erneut mit Auftrittsverbot.
Harald Seidel, der mittlerweile weißbärtige Bassist und SPD-Gründer in Greiz, war 1989 Abgeordneter im Thüringer Landtag, Rudolf Kuhl, Saxophonist und Band-Leader, organisierte 1999 die erste genehmigte Demonstration in der Stadt. Weitere Namen wären zu nennen: Jürgen Kornatz, seit den 70er Jahren befreundet mit Jürgen Fuchs, Widerspruchsgeist und Bürgerschreck, Winfried Arenhövel, Orchestermusiker und Schriftsteller, Reinhard Hilbert, nach Günter Ullmann Leiter des Lyrikzirkels, Volker Müller und Karsten Schaarschmidt, beide heute Journalisten...
Die Besonderheit der Greizer Literatur seit den 70er Jahren läßt sich mit den üblichen literarischen Wirkstrukturen erklären. Kulturelle Vernetzungen in einer selbst für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Repression und der Widerstand gegen die Hermetisierung bilden ihre Wurzeln. Es kam zu Wechselwirkungen zwischen Theater, Literatur, Musik und bildender Kunst. -
Nachvollziehbar etwa im Werk der international bekannten Greizer Holzbildhauerin Elly-Viola Nahmmacher (1913-2000), die zu DDR-Zeiten aus dem Verband Bildender Künstler ausgeschlossen worden war. Jazz- und Lyrikabende, eine andere Form der Greizer Metamorphose, führten "mecia nox" und Günter Ullmann in mehrere Städte Deutschlands.
Ullmann, in der DDR mit Veröffentlichungsverbot belegt und gezwungen, auf dem Bau zu arbeiten, schrieb in seiner Isolation 14 Buchmanuskripte für die Schublade. Sechs Bücher, mehrere Gedichthefte, zahlreiche Anthologiebeiträge und Übersetzungen sind inzwischen erschienen und dokumentieren seinen außergewöhnlichen Stil, mit denen er Dinge und Verhältnisse plastisch auf ihren Kern reduziert. 1990 wurde er Mitarbeiter für Kultur in der Stadt Greiz. Seiner Initiative sind die Einführung ausgezeichnet besuchter Abende in Greiz zu verdanken, bei denen u.a. Reiner Kunze und Jürgen Fuchs lasen.
So sehr Günter Ullmann die mit der einhergegangene geistige Befreiung begrüßte, so kritisch reflektiert er aber auch die Scheinwerte und Unverhältnisse der neuen Ordnung:

Greiz 1992
krawattenteutschte
honigärsche
bethronen die
unregierbar
gewendeten
arbeitslosen
müllhalden
eines großstadtüberbrückten
vergilbten
perlen-
lichts

Das Inhaltsverzeichnis
Udo Scheer 7
Winfried Arenhövel 13
Hans-Peter Arnold 114
Manfred I. Böhme 117
Dr. Karli Coburger 140
Wolfgang Flügel 143
Reiner Hartmann 150
Reinhard Hilbert 153
Michael Kurt 166
Volker Müller 187
Matthias Alexander Pöhland 205
Karsten Schaarschmidt 209
Günter Ullmann 229
Hanna-Lore Ullmann 305
Arnold Vaatz 317
Peter Voss 331