Paul Lindner, Das Land geht unter an der Jungfernheide
Paul Lindner, Berlin
Das Land geht unter an der Jungfernheide
Unter dem Schild Baden verboten
sitzen wir am Seeufer –
schon lange ein inoffizieller Strand
meist für die Ärmeren im Kiez;
heimatliche Transferleistungsempfänger
und viel Migrationshintergrund –
ein sprachlicher Turm von Babel
Drüben grillen die Polen
und am Schilf eine russische Familie
Die Aushänge an den Bäumen gut lesbar:
Grillen und offenes Feuer verboten
Arabische Mitbürger hocken um ihre Wasserpfeife
palavern wild und heiter
tätowiert und gepierct
die fünf gefärbten Blondinen
kichernd bei einer Flasche Weißwein
Orientalische Klänge vermischt mit deutschem Rap
Nackensteaks und Shisharauch hängen in der Luft
Das Ufer ist nicht eben
und der Reichtum an Grasfläche
ungleichmäßig verteilt
ein schmaler schlammiger Sandstreifen
vor dem trüben flachen Wasser
wo schallend Lachende baden und plantschen
Bereits abgeräumt das Kreuz eines Ertrunkenen
vielleicht war es auf Dauer unvereinbar
mit der freundlichen Gelassenheit der Lebenden
Mein kleiner Sohn schlängelt sich unsicher
zwischen Bewohnern des blauen Planeten
prüft mit dem Fuß den See
unschlüssig im lärmenden Tohuwabohu
Doch es vergeht nicht viel Zeit
und er tollt ausgelassen durch das Nass
mit einem türkischen Mädchen –
zwanglos und glücklich
Und ich denke an den Herrn
der da vor Jahren schrieb:
Deutschland schafft sich ab
Ja! Das Land geht unter
so wie er es kannte
ohne Tamtam und Blutvergießen
Aber beim Herumfragen kennen sie hier alle
Beethovens 9. Sinfonie –
ein paar Takte an Melodie genügen …