Markus Fegers - Tafelsilber - eine Weihnachtsgeschichte
Tafelsilber
„Besser, du kommst früh, so gegen zehn“, hatte mein Freund Gert am Telefon vorgeschlagen, „dann ist zwar nicht wirklich viel los, aber die Besucher sind noch offen für alles – und die Gefahr unliebsamer Kontrollen ist eher gering.“
Darauf ich: „Es gab Zeiten, da hattest du keinen Schiss …“
Jetzt wieder Gert: „Die GEMA* ist mittlerweile arg gierig, und seitdem sich ihre Forderung nach der Quadratmeterzahl der Veranstaltungsfläche richtet, frisst es mir die letzten Haare vom Kopf …“
„Schon klar.“
Der lokale Weihnachtsmarkt, den Gert seit Jahren organisiert, ist klein und überschaubar, aber für jeden gespielten Song überhöhte Gebühren abdrücken zu müssen – das geht an die Substanz. Also ab sofort kein „Last Christmas” mehr, kein „Santa Claus is Comin’ to Town” – und natürlich auch keine „Weihnachtsbäckerei“.
Doch ein Markt ohne Musik? Das geht gar nicht. Gerts Lösungsvorschlag: „Du improvisierst ein bisschen auf deinem Saxophon; bekannte Songs zitieren darfst du natürlich, wenn’s kurz und nicht gar zu auffällig wird. Eine Stunde inklusive Pause für ’nen Blauen, einverstanden?“
Einverstanden.
So zog ich an einem eiskalten Dezembersonntag als „Walking Act“ zwischen kaum besuchten Ständen herum und blies, was Lunge, Festplatte und spontane Einfälle hergaben – während mir die Lippen beinahe am Metallmundstück festfroren.
Die Pause war verdient, und als ich zum Aufwärmen an meinem alkoholfreien Punsch nippte, stand plötzlich die Heilige Johanna vor mir, Tochter des evangelischen Pfarrers. Mit ihr war ich vor einer Ewigkeit zur Schule gegangen.
„Nett, was du da spielst, aber kaum zu erkennen“, sagte sie.
„Vorgabe von Gert.“ Ich stellte meinen Becher ab. „Freie Improvisationen. Hi, Holy Joe. Lan-ge nicht gesehen.“
„Johanna bitte.“ Sie lächelte gequält. „Auch wenn’s dir schwerfällt.“
„Okay.“
Ein weiterer Schluck Punsch.
Johanna schaute mich interessiert an. „Und du machst das hier für lau“, stellte sie fest. „Quasi ehrenamtlich …“
Ich schüttelte den Kopf. „Gert zahlt einen Hunderter.“
Johanna pfiff durch die Zähne. „Da kann ich nicht mithalten.“
„Mithalten?“, fragte ich. „Du?“
„Wir. Die Tafel. Du weißt, dass ich dort arbeite?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. „Nein. Aber war ja kaum anders zu erwarten, Holy Joe.“
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du riskierst Prügel, Junge …“
„Friede auf Erden“, sagte ich.
Johanna seufzte. „Pass auf: Dienstag richten wir unser jährliches Weihnachtsessen für Ob-dachlose aus; diesmal bin ich mit der Planung dran, und ein paar Saxophonklänge fände ich genial. Aber ein Hunderter ist absolut nicht drin.“
„Für dich mach ich’s umsonst“, sagte ich. „Johanna.“
„Nicht für mich, für die Bedürftigen“, korrigierte Holy Joe streng. „Und Gottes Lohn ist dir gewiss.“
„Amen“, sagte ich.
Auf dem asphaltierten Hof vor der Halle der Tafel steht ein riesiger, zu den Seiten hin offener Pavillon. Heizstrahler bemühen sich um halbwegs erträgliche Temperaturen, eine Batterie von Duftkerzen auf den Biertischen kämpft hingebungsvoll mit den Gerüchen von Gu-laschkanone und ungewaschener Kleidung.
Die Bänke sind dicht gefüllt. Johanna wieselt geschäftig herum. Ich stehe am Zelteingang und blase gegen die Kakophonie aus klapperndem Geschirr, Essensgeräuschen und Stimmengewirr an. Um die GEMA* zu ärgern, habe ich nur gebührenfreie Klassiker wie „Es ist eine Zeit angekommen“, „Stille Nacht“ oder „Zu Bethlehem geboren“ auf dem Zettel.
„He, Meister!“, brüllt irgendwann jemand aus dem Hintergrund, „Kannst du endlich mal aufhören mit diesem heiligen Scheiß? Das ist ja unerträglich!“
Pfiffe, Buhrufe, Gelächter.
Ich setze das Saxophon ab.
„Nur nicht einschüchtern lassen, junger Mann“, höre ich eine feine Stimme sagen und wende den Kopf. Schräg gegenüber sitzt eine zierliche ältere Dame, Typ verarmte Beamtenwitwe. „Wer hierher kommt, darf ruhig ein bisschen gottesfürchtig sein.“
„… oder hart im Nehmen“, witzelt ihr vollbärtiger Nachbar.
„Machen Sie doch eine kleine Pause und setzen sich zu uns“, sagt die Dame sanft, rutscht ein wenig zur Seite und deutet auf das frei gewordene Eckchen Bank. „Bitte.“
Ich nehme Platz.
„Etwas Warmes gefällig?“ Die Dame schiebt mir eine Thermoskanne und einen Plastikbe-cher zu. Ich bediene mich. Ein undefinierbares Heißgetränk, aber nicht übel. Vermutlich hat Johanna den dünnen Kaffee mit biodynamischen Kräutern verfeinert.
„Wissen Sie“, sagt die Dame, „für mich ist Ihr Auftritt heute das Tafelsilber des Tages.“
„Tafelsilber?“, frage ich.
„Ein Wortspiel.“ Sie lächelt leise. „Tafel, weil wir hier dankenswerterweise von der Tafel umsorgt werden, Sie verstehen? Und Silber, weil …, weil, …“
Sie zieht die Stirn in Falten.
„… weil Ihre Musik weihnachtliches Lametta für uns ist“, hilft ihr Nachbar, räuspert sich und intoniert heiser „Kling, Glöckchen, Klingelingeling!“
Er bricht ab. „Sie spielen doch gleich weiter, oder?“
„Gerne.“ Mir wird ganz warm ums Herz. Tafelsilber, das ist hübsch, das werde ich mir merken – und ganz sicher der Heiligen Johanna erzählen.
*GEMA: Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte,
erhebt im Namen der Komponisten/Texter Gebühren für öffentlich aufgeführte Musik,
für Kopien/Nachdrucke von Notenmaterial, usw.