Gisela Mustermann-Fiedler: Tauwetter I und II (Gedicht des Tages)

Hördatei: 

 

 

Gisela Mustermann-Fiedler
Tauwetter I

Der Schnee lässt seinen Mantel vergehen,
alles was er umhüllte, verdeckte, weiß erschienen ließ,
liegt nackt vor mir:
zusammengebrochene Stauden, der kranke Körper,
leere Heizöltanks, ein blankes Konto, Spritzwasser vom LKW, schroffe Begegnung.

Fußstapfen aus feuchtem Deck, Schmutzpfade führen durch das Haus.
Respektlose Profilabdrücke, egoistische Ziele von Menschen auf den Boden geschrieben.
Katzen und trockene Socken hinterlassen keine Spuren.

Unter einer kaputten Dachpfanne sammeln sich Tautropfen wie Augenringe und ein Abzweig eines Wasserrohrs wird zum Metronom.
Wasser läuft, fließt aus den Augen, Poren und im Blut.

Feuchte Kühle zieht durch jede Masche, weckt den Schmerzkörper aller Zellen.
Das Frieren schweigt nicht, mit jedem Atemzug spricht die Kälte unter der Haut.
Die Erstarrung schmilzt, tropfenweise fließt der Gletscher in meine Kanalisation.

Tauwetter II

Die Vormittagssonne bricht durch den grauen Schleier,
macht sich breit ohne zu zögern, durchdringt alles, was sie erreichen kann.
Wie ein Entertainer brilliert, Aufmerksamkeit auf sich zieht und rund herum alles in seinen Schatten stellt.

Zwischen Südosten und Südwesten hat der Schnee bereits seine Kündigung.
Hinterm Haus, im Schatten des Baumes und auf der Nordseite ist der Schnee ein alter Gast, der nicht gehen will, er hält fest an vergangenen Wintertagen, seine Lebenskraft besteht aus Vergangenheit.

Schattenseiten und der Norden brauchen Geduld.
Die Hauswand, eine alte Eiche und der Berg werden nicht alltäglich versetzt.
Warten auf Zerfall, den Bagger, natürliche Vergänglichkeit, die Säge, Erosion oder Umzug?
Schattenseiten brauchen Geduld, bis der Frühling naht.