Hannah Stehling - Graue Brücken

Hördatei: 

Punkttrampolin

Ich kralle meine Finger in die Lücken des Maschendrahtzaunes. Da steht sie. Ein kleiner gelber Punkt. Auf der anderen Seite. Auf der anderen Seite des Flusses
„Bist du da?“, frage ich in mein Handy.
Der Punkt beginnt auf und abzuhüpfen. Er winkt. Das ist sie. Ganz klar.
„Wie geht‘s dir?“, tönt es an meinem Ohr.
Ich lehne die Stirn gegen den kalten Draht. Lehne mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen.
„Jetzt wunderbar“
Ich seufze. Seufze und starre weiterhin über das trübe Grau. Auf die andere Seite. Nach Shenzhen. Wir schweigen. Nach 698 Tagen hat man sich nicht mehr wirklich viel zu sagen. Und doch liebe ich sie. Nein, vielleicht gerade deswegen. Weil sie noch immer da ist und auf mich wartet.
Ich höre ihren Atem an meinem Ohr. Stetig und ruhig. Wie ein regelmäßiger Pulsschlag.
Höre wie sie von unseren beiden Mädchen erzählt. Chen Lu und Jinjin.
Ich kann ihr Strahlen hören. Ihr Lächeln sehen in dem hüpfenden gelben Punkt vor mir. Und ich lache und scherze, ich zeige Verständnis. Ich versuche stark zu sein. Ich strahle auch, nur wegen diesem kleinen Hüpfenden Punkt in der Ferne. Ich spüre das Licht durch meine Adern fließen, strahlend hell. Wie eine Droge. Wie süchtig machende Tropfen pulsieren sie durch meine Venen. Lassen mich aufrecht stehen, schicken die Wärme in Wellen von meinen Fingern, über die Schulter, das Schlüsselbein, bis hinab in den Boden.
Ich muss das nächste mal wieder mein Fernglas mitnehmen um sie zu sehen.
Sie muss nach Hause, es ist spät. Die OP-Masken sind nassgesprochen. Ich spüre die kleinen Tropfen von Kondenswasser. Wie sie sich in den Falten des Zellstoff sammeln und zu mikrometrischen Pfützen werden. Als hätte es den ganzen Tag über geregnet. Es ist dunkel. Es ist Nacht.
Schwarz und kalt legt das Firmament sich über alles was lebendig ist. Um den Laut des Atems zu ersticken, zu unterdrücken, zur Stille zu schreien.

Mein Name ist Chuang Baihu, es ist der 9. Dezember 2021 und ich bin seit 2 Jahren in Hongkong eingesperrt.