Luisa Maureen Chilinski: Du, Mädchen (JUgendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

 

Du, Mädchen mit Schmetterlingsspange im Haar und
weicher Samtpfirsichhaut, dem zarten Mund und
lieblichen Leberflecken auf der Wange.
Ich möchte dein Gesicht zerkratzen
mit meinen spitzen, kaputten Fingernägeln;
ruhigselig
tiefe Rotrisse in deine
ebene Samtpfirsichhaut.
Wie du so
unschuldig dreinblickst mit deinen Rehaugen,
naiv lispelnd, unsicher floskelnd.
Zerstörte Schönheit wird dich aufwecken!
Du Süße! Du schöner blonder Engel!, denken bestimmt
deine Mami, dein Papi,
deine Omi und
dein Freund.
Wohlbehütet aufgewachsen, heilig reich und
keinen Schimmer
von der Welt.
Warum der Hass?, könnte man fragen, frage ich mich,
tatest du doch keiner Fliege was zuleide, und
unverantwortlich für Hartz IV, das
Seehundsterben oder den Krieg in Afghanistan;
nicht mal den Freund hast du mir ausgespannt; nein, nicht einmal den Stift mir ausgeliehen oder mich nach der Uhrzeit gefragt hast du, nichts von alledem, nichts.
Und trotzdem hasse ich dich, du bist einfach zu un-schuldig. Du naives Blondchen, das sonntagnachmittags händchenhaltend durch den Park spaziert und der alten Dame über die Straße hilft – ich hasse dich!
Warum fällst du nicht und schlägst dir deine Knie auf, oder brichst dir beide Beine ...?
Das ist ungerecht.
Das ist einfach ungerecht, dass deine Eltern sagen „Wir haben kein Geld“, „Wir müssen sparen“ und „es geht den Bach runter“ und trotzdem der snobige Mercedes in eurer vom Gärtner gefegten Einfahrt steht.
Kauft ihr jetzt im Lidl statt bei real?

Du, Mädchen mit Schmetterlingsspange im Haar und glitzerndem Seidentuch auf dem Dekolleté:
Das ist einfach ungerecht, dass es dir gut geht, und du weißt es nicht!

Deine Hobbys sind Golf, Shoppen und Reiten, deine Lieblingsmusik „eigentlich alles außer Klassik und Volksmusik“ und ich möchte dir gern ein Törtchen dei-ner Zuckertortenwelt zertreten, um zu sehen, wie du dir dann deine Zeit vertreibst.
Ich hab nichts dagegen, dass deine Handtasche von Gucci und die Jeans von Miss Sixty ist, aber dein Glau-ben an eine sichere Zukunft im Reihenhaus 5 Meter neben deinen Eltern, gleich nach dem Medizin- oder Jurastudium – dieser scheinheile Perfektionismus kotzt mich an.

Du, Mädchen mit Schmetterlingsspange im Haar und
weicher Samtpfirsichhaut, dem zarten Mund und
lieblichen Leberflecken auf der Wange.
Ich möchte dein Gesicht zerkratzen und dir ein Flugticket schenken nach Afrika, damit dich dort
der Medizinmann mit Volksmusik
heilt.