Der Sterz schreibt aus: Grenzen/Übergänge
Einladung
zur Beteiligung am Thema
Grenzen / Übergänge
Grenzen und Übergänge sind ein herausforderndes Thema, das ganz dringend der
VerSTERZung bedarf. Beiträge in jedweder abdruckbarer Manier sind gefragt,
möglichst gut, möglichst klug, möglichst schön, möglichst bald an den
Grenzübergang vom Projekt zum Heft, an die STERZ-Redaktion.
Einige Gedanken zur Anregung:
Der Mensch hat so seine Grenzen, er stößt auf sie, er macht sie sich, setzt
sie anderen. Grenzen sind in der Kindererziehung wichtig, sagen neuerdings
die Pädagogen nach der ¹Grenzenlosigkeit1 der Antiautoritären, Grenzen
bedeuten sowohl Sicherheit wie auch Bedrohungen, Grenzen bewirken Glück und
Unglück, Grenzen sind Trennungen und Übergänge, sind das Gemeinsame zwischen
hüben und drüben, Grenzen haben Beteiligte, mindestens zwei.
Grenzen sind nichts Besonderes, sie sind alltäglich. Nichts dauert ewig,
alles hat sein Ende, seine Grenzen eben, alles fängt wo an, hört wo auf,
möglicherweise auch das (Welt-)All. Aber die Spekulationen über dessen
Anfang und seine Un- oder Endlichkeit sind nicht so wichtig für unsere
Überlegungen.
Grenzen des Universum
Unsere begrenzte Lebenszeit beinhaltet ja die Ungeheuerlichkeit, dass wir
einmal nicht mehr sein werden. Unsere diesbezügliche Grenze, an die bisher
noch jeder gelangt ist, ist jedes Mal mit einem ¹Weltuntergang1 verbunden,
denn ¹unsere1 Welt gibt es ja nur, weil wir sie zur Kenntnis nehmen. Wenn
wir einmal Urknall und ¹Lieben Gott1 außer Acht lassen, dann existiert/e das
Universum halt so vor sich hin, an und für sich, aber ¹geben1 tut es das
Ganze erst, seit wir die Welt zur Kenntnis nehmen, teilweise zumindest. Mit
jedem von uns, der an die Grenze seines Lebens stößt, geht diese Wahrnehmung
zu Ende. Sollte die gesamte Menschheit mit einem Schlag an die Grenze ihres
Existierens kommen, hörte auch das Weltall auf, wahrgenommen zu werden. Dann
kümmert es niemanden mehr, ob es existiert oder nicht. Das Bewusstsein von
Schimpansen oder Raben, so diese weiter existierten, dürfte dazu nicht
ausreichen. Möglich, dass es jenseits der Grenzen unserer Wahrnehmung andere
Intelligenzen gibt, von denen weiß allerdings außer Ufo-Forschern keiner
was.
Gemeinwesen
Aber solange es uns mit unserem Bewusstsein und Verhalten noch gibt, haben
wir mit Grenzen zu tun, mit denen, die die Natur und ihre Gesetze uns
setzen, mit denen, die wir uns setzen, um unser Gemeinwesen zu regeln, und
mit denen, die dieses eingrenzen, gegen andere derartige ¹gemeine Wesen1
abgrenzen.
Diese (Staats-)Grenzen sind oft als Ergebnisse von Heiratspolitik und
Schlachtenglück höchst zufällig entstanden. Die wenigsten Staatsgrenzen
entsprangen dem unmittelbaren Bedürfnis und Willen der Eingegrenzten. Der
bürgerliche Nationalstaat erfüllt den ¹Volkswillen1 vielleicht noch am
ehesten, wenn ethnische Annahmen, die allzu oft Fiktionen waren und sind,
zum Volksbeweger werden. Immerhin führte ethnische Gemeinsamkeit zu eigenen
Staaten. ¹Selbstbestimmungsrecht der Völker1 nannte US-Präsident Wilson das
am Ende des 1. Weltkriegs mit z. T. fatalen Folgen. - Die Iren konnten das
durchsetzen, die Basken nicht, die Griechen oder die Albaner schon eher,
natürlich die Polen, die Zigeuner nicht im Gegensatz zu den Juden, einer
ähnlich verstreuten ¹Ethnie1. War man dann innerhalb dieser Grenzen
glücklich? Eher nicht, leb(t)en doch außerhalb der neuen Grenzen noch
ihresgleichen als unerlöste Brüder und Schwestern in sog. unbefreiten
Gebieten. Die müssen heim ins Reich, am besten durch Eroberung. Gelingt die
nicht, werden diese Brüder und Schwestern oft vertrieben oder gar getötet,
damit nur keiner mehr auf so eine Idee komme.
Innere Grenzen
Dass ethnisch Verschiedene erträglich zusammenleben, funktioniert schon
lange nicht mehr so recht. Das konnte ein Fürst dekretieren, aber das ging
und geht nur schwer mit angeblich selbstbestimmten Individuen. Die wollen
ethnisch 1rein1 sein, die wollen keine Grenze untereinander, innerhalb ihrer
Gemeinschaft. Die Schweiz ist weltweit eine Ausnahme, in der Ö.-U. Monarchie
ging das bekanntlich nicht so gut, wie auch nicht in den Nachfolgestaaten.
Da gab und gibt es dann Randale, in Nordirland beispielsweise, in Belgien,
in Indien, in der Türkei, früher armenische und heute kurdische.
Minderheitschristen werden schikaniert innerhalb moslemischer Grenzen wie in
Ägypten oder vertrieben wie im nahen Osten. Wir wollen offenbar keine
inneren Grenzen, Abgrenzungen, da verhält sich ein Volk, eine
Mehrheitsbevölkerung ähnlich wie ein Individuum. Auch das versucht sich
abzugrenzen und keinen inneren Zwiespalt aufkommen lassen, es will mit sich
eins und im Reinen sein und sich möglichst wenig von anderen beeinflussen
und -trächtigen lassen, um seine Interessen verfolgen und die
Außenbeziehungen nützlich gestalten zu können.
Größeres Ganzes
Und dann die Aufhebung dieser individuellen Be- und Abgrenzung im größeren
Ganzen der Menge, der Massen bei Straßenaufläufen, in Fußballstadien, bei
Popkonzerten, bei Reichsparteitagen welches Reiches und welcher Partei auch
immer. Da verflüchtigen sich die Abgrenzungen, der Einzelne wird Teil der
Gruppenseele, verinnerlicht die Massensuggestion in den ureigensten Grenzen
seines Ichs.
Mit einem Mal wird ein Gruppengefühl mit vielen anderen geteilt, wird dieses
als Teil des Selbst angenommen und verteidigt als Ausdruck von Identität. Da
hat also ein Allgemeines die Grenze zum jeweils Persönlichen, Individuellen
überschritten, hat wie durch Osmose vom Ich Besitz ergriffen wie ein
Trojaner des Allgemeinen, der sich im Individuellen breit macht.
Zwar werden auch diese Grenzen zwischen den Einzelnen und dem Allgemeinen
andauernd überschritten in sozialer Beeinflussung, ja Prägung, aber das
geschieht in einem Austausch, einem Hin und her, einer Vergesellschaftung
oder auch Sozialisation. Massensuggestion bewirkt hingegen eine prägende
Gleichschaltung der ¹Seelen1 vieler Beteiligter. Wenn so ziemlich alle dem
Massenwahn des Augenblicks anheim gefallen sind, wenn dieser eingedrungen
ist in das jeweilige Innerste, bildet sich eine kollektive Identität: Der
¹besoffene1 Fußballfan, der entrückte Konzertbesucher, der
Parteitagsteilnehmer, der mit so vielen anderen den Führer gesehen hat und
mit ihnen lebenslang die Verzückung teilt.
Ängstliche Rudeltiere
Kollektive Grenzüberschreitungen gehören stammesgeschichtlich vielleicht
eher zur Gattung Mensch als die abgegrenzte Vereinzelung nach dem Motto: Am
stärksten ist der Mächtige allein. Wir sind doch mehr ängstliche Rudeltiere,
die sich innerhalb einer abgegrenzten Gemeinschaft wohl fühlen. Wenn wir
eine Entwicklung nicht beurteilen können, dann wollen wir lieber in
Gemeinschaft irren als möglicherweise allein Recht behalten. Innerhalb der
Grenzen einer größeren Gruppe fühlen wir uns anscheinend sicher.
Schneller, höher, weiter
Grenzen fordern heraus, das citius, altius, fortius - das Schneller, Höher,
Weiter - nicht nur bei den olympischen Spielen - ist wohl dem Menschen
eigen. Es entspringt unserem ¹entfesselten1 Geist, nach dem scheinbar
Unmöglichen zu streben, die Grenzen auszuloten, sie zu überwinden. Die Natur
ist hingegen ein selbstregelndes System der Vernunft, keine andere Art hat
so unvernünftige Mitglieder wie den (Erst-)Besteiger des Mount Everest z. B.
Ihr Prinzip ist ein ausgewogenes Preis-Leistungsverhältnis.
Prometheus
Für die alten Griechen war Prometheus (¹Der Vorausdenkende1) der Erschaffer
der Menschen, Athene gab dieser Schöpfung den Verstand und die Vernunft und
vielleicht auch den explorativen Antrieb, der uns von den Tieren so
wesentlich unterscheidet. Die Neugier nach dem hinter der Grenze, diese
entdeckerische Wissbegierde lässt den Menschen gegen jede Grenze anrennen,
Stillstand ist seine Sache nicht, zumindest nicht die des westlichen
Menschen.
Unbeherrschbarkeit
Irgendwann nach dem Mittelalter sind wir dieser Vorstellung von der ewigen
Wiederkehr des Gleichen entkommen, die Entdecker überwanden die Meere, die
Forscher und Erfinder dynamisierten die Wissenschaft, die Kultur. Ab da geht
unsere Entwicklungskurve immer steiler nach oben, die Entschlüsselung von
allem und jedem kommt näher. Werden wir uns früher selbst aufgehoben haben
oder doch vorher die Grenzen überwinden können, die unsere Aufhebung
verhindern? Anders gefragt, vernichten wir uns früher, als es uns gelingt,
die Zwänge dafür zu beseitigen?
Was unseren Erfolg bedingt, macht ihn möglicherweise auch zunichte: Unsere
grenzenlose Subjektivität, unsere Unbeherrschtheit, unsere unkontrollierbare
Individualität. Wir sind nicht auf einen Nenner zu bringen, auch wenn es um
letzte (Überlebens-)Fragen geht, irgendein Wahnsinniger wird immer
ausscheren, hat eine andere Sicht der Dinge, andere Interessen, und sei es
nur das, dass er lebensmüde ist. Stellen wir uns nur vor, Hitler, Idi Amin
oder Mugabe hätte die Atomwaffe (gehabt) S na, Pakistan ist ja auch kein
sehr stabiler Staat, wann übernehmen dort die Taliban mit ihren
Erlösungsvorstellungen die Macht?
Grenzerweiterung
Der Mensch stößt immer wieder an seine Grenzen, an die des Körpers wie die
des Geistes und vielleicht auch an die der sog. Seele, an die Grenze von
psychischer Kraft und Energie. Körper und Geist kann man trainieren,
vielleicht auch die Psyche, man kann durch Übung die Grenzen hinausschieben,
bis wir endgültig anstehen. Wenn uns das Üben nicht mehr weiterbringt, dann
überschreiten wir auch gerne diese ¹natürliche1 Grenze und greifen zu Doping
für den Aufbau von Muskeln, zur ¹Erweiterung1 des Bewusstseins oder zur
Stärkung der Psyche.
Alles und jedes hat also seine ¹natürlichen1 Grenzen, aber was natürlich
ist, ist zeit- und ideologieabhängig. Hielt man vor 150 Jahren die 30 km/h
der damaligen Eisenbahn für die Grenze der Erträglich- und Zumutbarkeit,
spekuliert man inzwischen mit der Lichtgeschwindigkeit, denn der Mensch ist
ungemein plastisch, und seine Grenzen bleiben ausgesprochen ungewiss.
Sollten wir aber an den biologischen Grenzen wirklich anstehen, werden wir
halt die Biologie ändern, wozu haben wir denn das Hirn mitgekriegt, das in
seinen Möglichkeiten wahrlich grenzenlos zu sein scheint.
STERZ
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