16. August 2013 - aktuelle Autorin - Heide Rieck

Heide Rieck

Geboren 1941 in Stettin (heute Szcecin). Von 1960 bis 1963 Studium (Pädagogik, Schauspiel) in Köln. Dort Gründung einer Studentenbühne. Regie und Aufführung des ersten eigenen Theaterstücks. Ab 1963 Lehrerin an Volksschulen im Ruhrgebiet mit dem Schwerpunkt Theaterspiel. Gründung eines Kinderladens. 1974 Unterricht an der École Normale in Beauvais, Frankreich. Von 1975 bis 1979 Entwicklung neuer Unterrichtsformen durch Körpersprache und Theaterspiel an Grundschulen in Bochum. Dort zehn Jahre lang Theaterpädagogin in der Lehrerfortbildung. Seit 1998 freie Schriftstellerin mit dem Schwerpunkt Roman und Kurzprosa zu dem Thema „Nach dem Desaster unterm Hakenkreuz“.

Autorenname: Heide Rieck.

Auszeichnungen:
Preis bei Lyrik im Pott, Oberhausen (1989).

Selbständige Veröffentlichungen: Kaisers und die Kleider. Weinheim/Bergstr.: Dt. Theaterverlag 1988 – wie leben, hoe leven. Gedichte. Dt./Niederl. Zuidhorn/Niederlande: Max 1994 – im blauen wind, in de blauwe wind. Gedichte. Dt./Niederl. Ebd. 1997 – Ein bisschen Wüste - een beetje woestijn. Momente in Prosa und Lyrik nach einer Reise durch Ägypten. Dt./Niederl. Ebd. 2002.

Unselbständige Veröffentlichungen in: Incontri. Berlin 1981 – WAZ 1994 – Das Dach ist dicht, wozu noch Dichter? Dortmund 1996 – Bei Anruf Poesie. Literaturtelefon Münster. Münster 1999.

Herausgabe: Doch seht wir leben.
Vom inneren Widerstand. Zwangsarbeit 1939-1945. Vechta-Langförden: Geest-Verl. 2005.

Rundfunk: Lyriklesung zum 9. Nov., 60. Jahrestag der Reichspogromnacht (Ruhrwelle, 1998).

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
 
Aber die Schatten (Auszug)
KAPITEL 1

Die Luft war schwer von Zigarettenrauch und Sehn-sucht, als der Trommelwirbel erstarb, der letzte Ton des Saxophons verklang. Stille fiel in die Nachtbar von Bat Galim. Im Nachklang der Musik verharrte auf der Tanzfläche ein Paar, wandte sich aber, als der Mann hinter der Kasse aufschaute und nach seinem Lineal griff, dem Ausgang zu. Eine Kusshand flog zur Theke hinüber, worauf der junge Blonde, als habe er das Zei¬chen nicht bemerkt, mit den Fingern durch sein Haar fuhr. Er zog einen Strich unter eine mathematische Gleichung, prüfte und zog einen zweiten Strich. Darauf schloss er das Schulheft. Über dem Namenszug Walter Grünwald war die Jahreszahl 1939 notiert. Nun zählte er sein Trinkgeld, steckte Heft und Geld in die Futtertasche, verließ seinen Platz, drehte an der Wand einen verborgenen Schalter. Die Lichter des Kronleuchters erloschen, und mit einem Nicken oder einem müden Zeichen der Hand verabschiedeten sich die Musiker. Bis auf Sándor aus Ungarn. Er war damit beschäftigt, ein Tuch über seine Trommeln zu spannen, über die mit dem mächtigen Umfang und über die hohe schma¬le. Dabei humpelte er mühsam über die Bühne; verlas-sen lag sie im fahlen Licht der Wandbeleuchtung. Hinter der Theke schloss Walter Grünwald die Kasse. Den Schlüssel ließ er in die Hosentasche gleiten, zog das Jackett aus und hängte es sorgfältig über die Leh¬ne seines Stuhls. Darauf sammelte er die Gläser und die Aschenbecher von den Tischen, schaute dabei im¬mer wieder zur Bühne hinüber. Er arbeitete rasch, beinahe wütend. Mit der rechten Hand zog er die Tücher ab, während er in der linken die Schirmlampe des je¬weiligen Tisches hielt. Er faltete, schichtete, hob dann einen Stuhl nach dem andern auf die Holzflächen der Tische. Du solltest dich endlich operieren lassen, Sán¬dor, sagte er, als er die Bühne erreichte, mein Onkel könnte dir eine neue Hüfte einsetzen.
Ach, Junge, er mag ja ein berühmter Arzt sein! Seit einem halben Jahr schwärmst du von seiner Erfindung, aber leider ist dein Onkel Fritz nicht hier. Ist er noch in Wien?
Walter hob den letzten Stuhl auf den Tisch. Ich weiß nicht, wo er steckt, aber ich sehe doch, dass es dir von Tag zu Tag schlechter geht.
Sie unterhielten sich auf Deutsch, wenn sie allein wa-ren. Ein halbes Jahr zuvor hatte Sándor in der jüdischen Gemeinde von Budapest erfahren, dass im Casino von Bat Galim nördlich von Haifa ein Trommler gesucht wurde, und kurz nachdem er im Mai 1938 seine ersten Erfolge in der Nachtbar hatte verbuchen können, war Walter Grünwald auf der Bildfläche er¬schienen, der siebzehnjährige Neffe der Chefin aus Wien – mit einem Stipendium für die Technische Hochschule von Haifa in der Tasche. Nacht für Nacht bediente er die Gäste, oft saß er an der Kasse. Seitdem fühlte sich der Trommler aus Ungarn nicht mehr einsam. Von dem Kauder¬welsch hier verstehe ich kein Wort, hatte er bei ihrer ersten Begrüßung gesagt, und Walter hatte erwidert, Englisch ist nicht schwer, das lernst du leicht; ich hab’s mir als Schüler beigebracht. Morgen bringe ich dir das Buch 1000 Wörter Englisch aus dem Ullstein-Verlag mit. Über der Tanzfläche leuchteten Staubkörner auf, als Sándor nach seinem Stock griff, beim Trommeln spüre ich nichts; nur das Gehen klappt nicht gut.
Das sage ich doch; eine Operation könnte dir helfen.
Ist schon gut, Junge. Schau, da liegt die Mütze von unserem feschen Leutnant unterm Tisch. Die Briten werden in letzter Zeit immer nervöser. Hast du nicht auch den Eindruck?
Walter Grünwald aber hörte die leise gesprochenen Worte nicht. Er stand schon wieder neben der Kasse, um die Aschenbecher über einem Kübel zu säubern. Wie nach jedem Tanzabend lauschte er auf die Stille in seinem Rücken; das Pochen des Stocks verstärkte sie. Inzwischen hatte der Musiker den Vorhang der Ein- und Ausgangstür erreicht. Wenn ich einmal nach Wien kom¬me, Walter, flüsterte er, dann …, ja dann frage ich nach dem berühmten Doktor Fritz Schnek und werde ihn von meinem lieben Barmann aus dem Casino am Strand von Haifa grüßen. Servus, mein Junge, schlaf gut!
Gute Nacht, Sándor!, rief Walter ihm nach, schieb die Operation nicht zu lange auf!
Zu Türmen gestapelt, glänzten jetzt die Aschenbecher im Schein der Leselampe, und mit einem Putzlappen in der Hand durchquerte Walter Grünwald den Raum. Er schob den bodentiefen Vorhang zur Seite, öffnete die Glastür und schaltete das Terrassenlicht an. Von unten herauf rauschte die Brandung. Walter rückte auch hier die Stühle zurecht, wischte über die Tische. Am Nach¬mittag wurde im Casino selten geraucht. Nach weni¬gen Minuten flog der Lappen in den Eimer bei der Tür. Geschafft, rief der junge Mann, tastete nach seinen Zigaretten und trat an die Balustrade.
Den Blick aufs Meer gerichtet, öffnete er die Knöpfe am Hemd, rollte die Ärmel hoch. Er genoss den Wind. Vor ihm das Meer. Er grinste, bald ist es wieder so weit, der Frühling ist da, die Mädchen werden ihre Beinchen zeigen und hinter der Luke da unten noch viel mehr. Er rauchte. Dort werde ich von der Terrasse aus fischen, aber niemand wird den Angler sehen, wohingegen dieser – er pfiff – alles von oben herab überschauen wird.
Das Casino war vom Mittelmeer umspült. Ein präch-tiger Flachdachbau der 1920er-Jahre aus Beton. In luftigen Stufen schoben sich zwei Terrassen ins Meer. Die obere führte in den Ballsaal, die untere in die Wohnräume. Walters Kammer lag am Ende des Gangs hinter der Nachtbar. Im Erdgeschoss war ein Eiscafé untergebracht, und im Souterrain befanden sich die Duschräume für die Damen und Herren, die einzigen Süßwasserduschen an Haifas Küste. Der Betonkranz des Schwimmbads unterhalb der Terrassen war auf Stelzen errichtet. Am Strand umgrenzte ein Latten¬zaun den Privatbezirk, der in der Saison von einem Bademeister im Hochstuhl überwacht wurde.
Was liegt denn da im Sand? Ein Pfiff durch die Zähne ertönte. Das Schwert der Jolle war eingezogen. Auf-geregt saugte Walter an der Zigarette, das Ding gefällt mir, ich schau’s mir gleich an. Darauf ließ er den Blick über das Boot hinweg nach Süden gleiten. Im Hafen blinkte der Leuchtturm.
Vor sechs Monaten bin ich dort drüben gelandet, sann Walter Grünwald, wie Jonas aus einem großen Fisch gekotzt. Er grinste über seinen Einfall, aber Jonas, spann er weiter, wurde nicht an einen fremden Kontinent getrieben wie er, Walter Grünwald, mit der frisch erworbenen Matura aus Wien in der Tasche. Er war fremd in Palästina. Einsam.
Er stützte seine Unterarme auf die Brüstung. Der Wind tat gut. Unerwartet schreckte ihn ein Geräusch auf. Da sah er sie. Nicht in seinem Zimmer wie vor einer Woche. Sie lehnte am Türrahmen, kaum zu erkennen im Schatten des auf die Fliesen fallenden Lichts der Terrassenlaterne. Ein Scherz, ruft sie, es war nur ein Scherz, Walter! Sie trägt ihr Satinkleid, das streckt ihre Gestalt. Klar umrissen sah er sie. Sie winkt mit der Zigarettenspitze, das Fenster springt auf, der Vorhang weht, und er selbst ein Bub vor seinen Briefmarken; die beste Marke fehlt. Er schluckte, und dann rauchte er gierig. Bis ihm gelang, sich von der Erscheinung los¬zureißen, er kehrte ihr den Rücken, schaute übers Meer. Seltsam, was einem in den Sinn kommt, wenn man müde ist! Sein Blick fand am Orion Halt. Wie hell das Schwertgehänge heute; Onkel Julla hat’s mir ge¬zeigt. Trotz des kühlen Windhauchs bildeten sich bei der Erinnerung an Mutters jüngsten Bruder Schwei߬perlen auf Walters Stirn.
Er kannte die Gefahr der Erschöpfung, wenn die Bilder aus Wien in ihm lebendig wurden. Bei Nacht wehrte er sich nicht mehr und fragte sich jetzt, was seine Mutter ihm damals wohl gesagt hatte, als der Vorhang wehte. Er war acht Jahre alt, hatte nicht zugehört, mit den Briefmarken war er beschäftigt.
Und während sein Körper, auf die Unterarme gestützt, sich im Rhythmus des Meeres wiegte, spürte er einen Schmerz in der Brust. Ein Hauch von Schmerz, spitz und drohend. Er rauchte, kniff die Augen zu, und der Wiederholungstraum seiner ersten Wochen in der Frem¬de erschien hinter seiner Stirn: Eine haarfeine Linie auf der weiß gekalkten Zimmerwand. Die Linie wächst, wächst unaufhaltsam an Breite und Tiefe, reißt auf zu einer bodenlosen Schlucht. Nein, rief er laut, drückte die Kippe auf der Brüstung aus und klopfte den Stein¬staub von der Hose. Hey, gestern Nacht … Abrupt hielt er in der Bewegung inne. Von der Wucht der Er¬kenntnis getroffen, glitt seine Hand in die Hosentasche und zerquetschte die Zigarettenpackung; die Zähne knirschten. Jetzt waren seine Gedanken wieder klar. Er schlug sich an die Stirn, gestern Nacht taucht die Blaue Lindbergh auf. Wie konnte ich den Traum vergessen! Meine Lieblingsbriefmarke. Jahrelang verschwunden und steht plötzlich da – überdimensional groß wie ein Plakat. Klar, rief er und traf zum zweiten Mal mit dem Handballen die Stirn, sonnenklar. Jetzt weiß ich, wer sie gestohlen hat. Am Nachmittag war doch Josef Bayer¬hofer zum Tauschen gekommen, der schlaue Sepp, der flinke Bayerhofer! Kennt nach dem Anschluss an Nazi¬deutschland keinen Walter Grünwald mehr. Luft bin ich für ihn. Ein Jude, ein Dreck! Erscheint in HJ-Uniform zum Unterricht, der Bayerhofer! Und hat doch jeden Mittwoch heiße Schokolade bei uns geschlürft, als wir noch Kinder waren. Seltsam, was man begreifen kann – Jahre danach! Nein, nein, die Blaue Lindbergh flog nicht aus dem Fenster, als der Vorhang wehte, Schnee¬flocken trieben ins Zimmer. Sie wurde gestohlen, rief Walter Grünwald gegen den Wind, ein Freund hat sie gestohlen! Einer, der sich einmal Freund genannt hat. Ha! Wie schnell das geht – von Freund zu Feind! Wippen wir ein wenig, bist du oben, hopp, bist du unten. Und kaum wird man sich seiner selbst bewusst, ist man unerwünscht auf der Welt, pardon, in Wien. In Wien nicht geduldet. Er schlug mit beiden Handflächen auf die Brüstung; es klatschte, ich werde euch zeigen, wer Walter Grünwald ist.
Das wird auch höchste Zeit, wurde er unterbrochen. Nicht umdrehen, auf keinen Fall zurückschauen! Kaum ist das Fantasiebild vertrieben, steht ein Gespenst hinter mir!
Walter, was muss ich sehen?
Erleichtert atmete er auf; er kannte die Stimme.
Du trödelst hier wieder rum, statt dich nützlich zu machen. Ruinierst deine Gesundheit. Ins Bett, Bub! Was soll Oma denken, wenn sie hört, dass du dich bei Nacht hier rumtreibst und nach deiner Mama schreist! Es ist gleich halb drei. Geh schlafen, Walter Grünwald! Mor¬gen musst du früh raus!
Grinsend drehte er sich zu seiner Tante Grete um. Die Casino-Chefin stand im Türrahmen. Zwischen ihr und dem Neffen dehnte sich, vom Laternenschein milchig übergossen, die Terrasse; die Fliesen blinkten matt. Grete Eisenmann hatte die Hand in die Seite ge-stemmt, sie trug einen engen Rock, in ihrer Rechten hielt sie eine Zigarettenspitze, führte sie an die Lippen und dann in weitem Bogen von sich. Dabei glitzerten die Steine des feinen Rohrs. Madame imitiert ihre Schwes¬ter, Walters Mundwinkel hob sich, das hat sie früher schon getan. Pah! Gerissen ist das Weibsstück, kann aber Mama nicht das Wasser reichen (er sprach Mama französisch aus). Ich hasse ihre Stimme. Grün und kalt sind die Augen. Sie gleicht Mama nicht. Im Gegenteil. Jetzt stockten seine Gedanken, hat die Spio¬nin etwa die ganze Zeit dort ge¬standen und mich be¬obachtet? Ach, was! Trotzig hob er sein Kinn, du kannst deiner Mutter erzählen, was du willst; sie träumt heute Nacht sowieso von Wien. Unsinn!, schnaubte Grete, sie ist den ganzen Tag auf den Beinen, kocht und passt auf die Kleine auf. Ich muss mich ja hier um al¬les kümmern. Seit drei Stunden schläft sie. Wie kommst du nur auf einen so blöden Gedanken? Du suchst eine Ausflucht, weil ich dich wieder ertappt ha¬be. Lungerst hier rum, anstatt ins Bett zu gehen. Ich ken-ne dich, Bürschchen. Walter fiel ihr ins Wort, heute ist der 21. März. Vergiss das nicht, er warf einen Blick auf die Arm¬banduhr, seit zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten.
Na, und?
Der Geburtstag deiner Schwester.
Welche meinst du? Wir sind, wie du wissen solltest, acht Geschwister: drei Jungen und fünf Mädchen; Her¬mine starb an Meningitis.