Aleyna Köybasi - Vogelfrei

Vogelfrei
Aleyna Köybasi

Ich liege im Bett und schaue hoch zur Decke. Die weiße leere Wand spiegelt meine Gedanken wieder. Meine Augen zucken kurz, ich sollte mal wieder blinzeln. Ein ganz kurzer Moment von Schwärze bis ich wieder die Wand sehe. Nein, die Wand ist es nicht. Plötzlich sehe ich meinen kleinen orangen Kater, der mir ins Gesicht sieht. Ich schrecke hoch und setze mich auf die Kante des braunen Bettes. Meine nackten Füße erfühlen den kalten Boden und meine Haare gehen in alle Richtungen. Mein Kater sitzt noch immer da und starrt mich an. Was will der eigentlich von mir? Ich schaue ihm in die großen schwarzen Augen. Wenn ich nur wüsste, was du willst, ach, du verstehst mich ja doch nicht.
Ich stehe auf und gehe zur Küche. Dort schaue ich in den Kühlschrank und sehe Obst und weiteres gesundes Zeug, das keiner wirklich will. Ich schließe die große metallene Tür wieder und setze mich an den Tisch. Langsam schaue ich stumm aus dem Fenster. Meine Augen wandern zur Fensterbank – und wer liegt da? Richtig, mein Kater. Lieb, wie er es sonst nicht ist, miaut er mich an. Bei dem Anblick fällt mir wieder ein, wie viel ich noch zu tun habe. Und ich sitze einfach hier und denke nach, dabei könnte ich die Zeit viel besser nutzen. Das orange Vieh springt mit einem sanf-ten Hüpfer zu Boden und gleitet förmlich an meinen Füßen entlang. Ich folge dem Körper, bis er sich plötzlich auf den Boden schmeißt, mitten im Flur, und liegen bleibt. Die Au-gen offen, sieht er den langen Flur an. Mann, hast du es gut. So viel Ruhe und überall kannst ein Schläfchen machen, jederzeit kannst du mit deinem Spielzeug spielen und keine Menschen-, nein, Tierseele nervt dich dabei. Aber ich? Ich werde sogar von dir genervt. Ich wäre lieber ein Vogel ...
Ich überlege. Was habe ich soeben gesagt? Ich würde gerne ein Vogel sein? Ist das denn wirklich mein Wunsch? Ich meine, es ist nicht einfach, immer darauf zu achten, dass du nicht versehentlich gegen eine Scheibe fliegst oder gar eine Katze dich fängt.
Noch einmal sehe ich zum Kater. Das Leben eines Men-schen ist so unfassbar stressig. Ich stehe auf und gehe zu-rück in mein Zimmer. Dort setze ich mich an meinen Schreibtisch und sehe zum Sofa, wo ... der Kater liegt. Wie hast du das gemacht? Lächelnd sehe ich ihn an, und er er-widert das, indem er sich auf den Rücken rollt. Nein, ich kann nicht, ich muss Schule machen ...
Langsam atme ich aus, Schule. Warum muss ich in die Schule? Damit ich etwas lerne? Ja klar, aber ich werde nie-mals in ein Geschäft gehen und anfangen, eine Gedichtana-lyse über die Zutatenliste meines Lieblingssafts zu erzählen. Leicht haue ich meinen Kopf auf den Tisch. Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe etwas verzweifelt zum Klavier hin-über. Das Einzige, was meine Gedanken für einen Moment leert. Die Tasten, weiß und schwarz, gleiten nur so dahin, und die Noten ergeben, wenn man sie nach und nach durchgeht, ein sanftes Gefühl von Frieden. Ich werde aus meinen Träumen gerissen, denn plötzlich höre ich schrille Töne, die durcheinander erklingen. Mein Kater schmeißt sich auf dieTasten. Mit einem Ruck stehe ich und gehe zu ihm. Er kann ja alles machen, aber muss er sich auf das Kla-vier legen? Als hätte er meine Gedanken gelesen, springt er mit einem etwas kläglichen Miauen von den Tasten, wobei die Stille wieder von ekelhaften Kombinationen zerstört wird. Meine Mundwinkel zucken kurz, bis ich mich wieder fange und auf den Hocker setze. Meine Fingerkuppen be-rühren eine Taste nach der anderen. Nach dem ersten Run-terdrücken einer Taste füllt sich mein Körper mit etwas, was ich nicht weiß, was es ist, noch wie ich es beschreiben soll. Es ist einfach da und einfach schön. Langsam spiele ich die Noten nach und nach. Als wäre ich auf Wolken, ganz allein, ganz sorgenfrei. Mehrere Minuten sitze ich einfach da und folge meinen Händen, die mehr führen als mein Kopf. Sie wissen genau, wo es langgeht, anders als ich.