In der Lektoratsarbeit: Hans Dierck Waller - Auf der Suche nach einem neuen Anfang
In der Lektoratsarbeit:
Hans Dierck Waller:
Auf der Suche nach einem neuen Anfang.
Geest-Verlag 2009
ISBN 978-3-86685-172-6
Wir kamen als Geschlagene aus einem Krieg zurück, in den auch wir
Jungen der Flakhelfergeneration vom Satan und seinen Gefolgsmännern
geführt worden waren. Wir sehnten uns jetzt zunächst nur nach Ruhe und
suchten nach unseren Angehörigen und Freunden. Hatten sie überlebt?
Welch ein Aufatmen, wenn man sie lebend, vielleicht sogar gesund
wiedergetroffen hatte.
Einige Zeit nach der Rückkehr aus dem Krieg brach ein ungeheurer
Lebenshunger aus uns hervor. Über das hinter uns Liegende wurde
zunächst nicht gesprochen. Wir hatten es weit von uns geschoben, es
war mit einem ‚Tabu’ belegt. Wir wollten jetzt nicht an die
Kriegserlebnisse erinnert werden.
Bald wurden jedoch immer neue Einzelheiten über den Holocaust bekannt.
Sie brachten so ungeheurliche Nachrichten über die organisierten
Massenmorde – vor allem im Osten Europas – an Menschen ‚anderer
Rasse’, dass sie für uns unvorstellbar waren. Nach der jahrelangen
Lügenpropaganda unserer Regierung waren wir jetzt auch gegenüber den
Nachrichten der Siegermächte über das grauenhafte Geschehen
misstrauisch. Konnte das wirklich wahr sein? Die
Schreckensnachrichten wurden allmählich zur Gewissheit. Scham und Wut
kamen über uns. Wir fragten uns – zu diesem Zeitpunkt noch leise:
„Sind wir vielleicht alle, bewusst oder unbewusst, mitschuldig, dass es
so weit kom¬men konnte? Gibt es eine Kollektivschuld? Hätten wir das
Unheil verhindern können?“
Uns bewegten als Nachkriegsstudenten zunächst viele grundsätzliche
Fragen nach historischen Zu¬sammenhängen, nach den Spielregeln der
Demokratie, modernen Sozialsystemen, aber auch nach gesetzlichen
Grundlagen der Rechtssprechung, über die wir jetzt frei mit in- und
ausländischen Wissenschaftlern und Politikern diskutieren konnten.
Auch meldeten sich zweifelnde Fragen, ob es einen Gott geben könnte,
der so viel Hass und Morden auf der Erde zugelassen hatte und zuließ?
Unabhängig hiervon waren wir auf der Suche nach einer privaten und beruflichen Zukunft.
Unsere Stadt war weitgehend zerstört, es mussten neue urbane Strukturen
aufgebaut werden – nicht nur materiell, sondern auch personell.
Wirtschaft und Verwaltung lagen am Boden, viele Menschen waren
arbeitslos, es herrschte eine große Hungersnot. Voraussetzung für
einen völligen Neubeginn im politischen und administrativen Bereich
wären ideologisch unbelastete Fachleute gewesen, doch von diesen gab
es nur wenige im öffentlichen Leben und an der Universität. Die
Entnazifizierung lief erst an. Die Hauptexponenten des
nationalsozialistischen Systems waren bekannt, die vielen
weltanschaulich infizierten ‚Mitläufer’ gaben sich – nachvollziehbar
– häufig gegenseitig ein Alibi, sodass in vielen Bereichen die
gleichgesinnten ‚Volksgenossen in alter Kameradschaft’ oder
‚Volksgemeinschaft’, wie sie im Dritten Reich immer wieder beschworen
worden war, möglichst unauffällig zu¬sammenhielten. Natürlich verband
sie auch eine gemeinsame Sorge um die weitere Zukunft ihrer Familien.
Die meisten von ihnen hatten im Sinne des Gesetzes persönlich keine
Straftaten begangen, sie hatten aber bewusst oder auch unbewusst das
System gestützt. Es war allerdings erstaunlich, wie viele Menschen in
dieser Zeit plötzlich ihre ständige Ablehnung des Nationalsozialismus
entdeckten. Die Spielregeln einer Demokratie waren ihnen nicht bekannt
oder nach den Erfahrungen in der Weimarer Republick suspekt. Viele,
besonders aus dem Offizierskorps, beriefen sich zudem bei ihrer
Unschuldsbeteuerung auf die verpflichtende Bindung an den auf Hitler
von allen Soldaten geleisteten Eid: „Ich schwöre bei Gott diesen
heiligen Eid, dass ich dem Führer des deutschen Volkes, Adolf Hitler,
dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingt Gehorsam leisten
und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit mein Leben
einzusetzen.“
Auf manchen Mitläufer musste in diesen unmittelbaren Nachkriegsjahren
trotzdem zurückgegriffen werden. Eine ‚Stunde Null’, ein ‚Auslöschen
der Vergangenheit’, konnte es für den Beginn unseres demokratischen
Staatswesens nicht geben und hat es auch nicht gegeben. Erst allmählich
sollte sich ein demokratisches System entwickeln.
Autorenbiographie
Hans Dierck Waller
geb. 1926 in Kiel,
ist emeritierter o. Professor für Innere Medizin an der Universität Tübingen.
Seine Vorfahren stammen aus Dithmarschen und Ostfriesland.
Nach seiner Tätigkeit als Arzt, Wissenschaftler und Hochschullehrer
hat er sich zunächst mit ethischen Problemen in der Medizin
und in den letzten Jahren zusammen mit seiner Frau
Friederike Waller
der schreibenden Literatur zugewandt.