Frerich Ihben schreibt einen Brief an die Verantwortlichen der Parteien zur Erinnerung an ihre Verantwortung. Zur Nachahmung empfohlen!

Frerich Ihben, Autor, schreibt nach der Wahl einen Brief an die Verantwortlichen der großen Parteien und erinnert sie an Ihre Verantwortung. Man weiß nicht, ob sein Brief von einem der Politiker gelesen wird. Doch ich finde, seine Aktion ist nachahmenswert. Schreibt doch auch einen Brief, vielleicht  an eure neuen Abgeordneten des Bundestags.

Sehr geehrte Frau Brantner,
sehr geehrter Herr Banaszek,
sehr geehrter Herr Klingbeil,
sehr geehrte Frau Esken,
sehr geehrter Herr Merz,
sehr geehrter Herr Söder,

haben Sie vielen Dank für Ihre Entscheidung, Politik zugunsten unserer Bevölkerung zu machen. In einer kritischen, zum Teil aufgeladenen Stimmung standhaft eigene Überzeugungen zu vertreten, erfordert Mut und Engagement.
Es ist für mich nicht besonders wichtig, an dieser Stelle das Ergebnis der gestrigen Bundestagswahl zu kommentieren. So wie vermutlich fast alle Bürger*innen habe ich mir ein anderes erwünscht. Schließlich möchte man seine Favoriten immer ganz weit vorne sehen. Mein Demokratieverständnis sagt mir jedoch, dass die Wähler*innen in Summe einen Regierungsauftrag erteilt haben, den Sie auszuführen haben. Dafür haben Sie meinen Vertrauensvorschuss verdient.
Etwas anderes beunruhigt mich und hat mich veranlasst, diesen Brief zu schreiben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie alle in dem jetzt beendeten Wahlkampf unter Ihren Möglichkeiten geblieben sind. Sie haben sich diesen Wahlkampf von einer radikalen Minderheit, namentlich die AfD, aufzwingen lassen. Mit völlig verzerrten, teilweise sinnentleerten Debatten über Migration und „Ausländerkriminalität“ haben Sie die Themen dieser Partei bedient und maßgeblich zum AfD-Wahlerfolg beigetragen. Alle verifizierbaren Statistiken, beispielsweise jene des BKA belegen, dass die Realität nicht das geringste mit der emotional geführten Debatte im Wahlkampf zu tun hat.  Leider muss ich Ihnen den Vorwurf machen, dass Sie in die Rassismusfalle der Rechtsradikalen getappt sind, indem Sie deren Begrifflichkeiten und Falschdarstellungen übernommen, oder denen zumindest nicht widersprochen haben. Mit diesem Verhalten haben Sie 1:1 auf das Konto der AfD eingezahlt.
Dabei gibt es ein riesiges Themenfeld, dass so gut wie gar nicht vorgekommen ist – Zukunft!
Keine der von Ihnen vertretenen Parteien hat es geschafft, im ausreichenden Maß junge Wähler*innen zu mobilisieren. Für mich ist das keine Überraschung. Erstwähler*innen, die noch unter dem Eindruck eines mängelbehafteten Schulsystems (personell, organisatorisch und finanziell) ihre Wahlentscheidung treffen, erwarten Antworten auf dringende Fragen für ihr weiteres Leben. Diese wurden nicht gegeben.
Die Klimaveränderung und die damit einhergehenden einschneidenden Veränderungen in der Gesellschaft (inklusive Flüchtlingsströme) war allenfalls ein Randthema (weniger als 1 Minute im „Quadrell“).
Auch auf die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt habe ich keine überzeugenden Argumente vernommen. Immer mehr junge Menschen wohnen in prekären Verhältnissen. Die Möglichkeit, mit dem Auszug aus dem Elternhaus und Beginn einer Partnerschaft eine menschenwürdige Wohnung zu beziehen, ist kaum noch gegeben. Die Alternativen: überteuerte, überbelegte Wohngemeinschaften, „Hotel Mama“ mit langen Wegen, im schlimmsten Fall Obdachlosigkeit.
Der Ausbau flexibler Arbeitszeitmodelle**, berufliche und schulische Weiterbildung, praxisorientierte Anerkennung von Abschlüssen und Berufserfahrung, zielgerichtete Förderung bei Existenzgründungen – alles das wurde vernachlässigt und der Migrationsdebatte untergeordnet.
An dieser Stelle könnten noch viele Zukunftsthemen aufgelistet werden, die dringend gelöst werden müssen, aber im politischen Diskurs keinen Raum gefunden haben: Verkehr, Digitalisierung, Ärztliche Versorgung, Erschließung ländlicher Räume sind nur ein paar Stichworte.
Wie politisch sich Jungwähler*innen verhalten, kann man an den beiden letzten Bundestagswahlen festmachen. Ein Beispiel: 2021 hatte die FDP einen enormen Zulauf aus dieser Wählergruppe. Nachdem in der abgelaufenen Legisla-turperiode sichtbar wurde, dass diese Partei ihnen rein gar nichts anzubieten hatte, verflog diese Begeisterung.
Die Wahl vom 23. Februar 2023 zeigt, dass an den politischen Rändern erkannt wurde, welches Potenzial bei jungen Erwachsenen zu holen ist.
Ich appelliere an  Sie, die Vertreter der demokratischen Mitte, die Jugend nicht zu vergessen. Im Gegensatz zu rechten und linken Parteien könnten Sie anstelle von Sprüchen tatsächlich etwas anbieten, nämlich praktikable Lösungen für die dringendsten Probleme.
Was im Wahlkampf vernachlässigt wurde, kann jedoch in der praktischen Politik umgesetzt werden. Ich hoffe, dass diejenigen von Ihnen, die Regierungsverantwortung übernehmen, das beherzigen.
Sollte Ihnen das nicht gelingen, läuft unsere Gesellschaft Gefahr, dass die besten und klügsten der Erstwähler künftig weder als Wähler noch als Leistungserbringer für Gesellschaft und Wirtschaft zur Verfügung stehen.
Weltoffene Volkswirtschaften mit einer besseren Infrastruktur, zeitgerechter Digitalisierung und guten Arbeitsbedin-gungen haben einen hohen Bedarf an Fachkräften.


Freundliche, aber nachdenkliche Grüße

Frerich Ihben

Damit Sie meine Zeilen besser einordnen können, hier einige Informationen zu meiner Person:

Ich bin 71 Jahre alt, Rentner und lebe zusammen mit meiner Ehefrau in Ostfriesland.
Nach viereinhalb Jahrzehnten der Berufstätigkeit bin ich dank meiner Rente finanziell so abgesichert, dass es gut zum Leben reicht und mir die Unterstützung karitativer Einrichtungen möglich ist. Kurz: ich beklage mich nicht!
Ich behalte mir vor, Ihre Arbeit weiterhin kritisch zu verfolgen und gegebenenfalls auch öffentlich zu kommentieren.

**Volkswirtschaftlich und für die Betroffenen selbst ist es besser, wenn zwei Partner*innen flexibel je 30 Stunden in qualifizierten Berufen arbeiten, als wenn der Partner/die Partnerin wegen des starren 40 Stunden-Jobs nur 10 Stun-den als Aushilfe „dazuverdienen“ kann.