Jenny Schon Cherub – Friederike Mayröcker zum Hundertsten
Jenny Schon
Cherub –
Friederike Mayröcker zum Hundertsten
(* 20. Dezember 1924 in Wien-
+ 4. Juni 2021 in Wien)
I.
Wilderin in den Gängen der Grammatik
Ich folge dir
Knarrende Dielen ausgetretene Stiegen
Luft dick daß die Ohren dröhnen
Witterung aufnehmend und schon greifst du in den Raum
mit den unverbrauchten Wortstämmen
Ich traue mich nicht deine Spinnenbeinfinger zu streicheln
die Worte ergreifen als seien sie eine Beute
Jägerin selbst auf der Hut vor der Zerstörung der Zeit
Deine stockigen Glieder zerfallen
Ein Schattenspiel
wenn das Licht schwindet
Deine gläserne Sprache zersplittert mein Herz
Du fällst meinen Wortstamm
Ich bin sprachlos
Deine Zunge spaltet mein Trommelfell
Ich blute aus in deiner Kraft
Was übrig bleibt
düngt eines Tages das Ruhebeet der Worte
Du signierst das Buch
entwirrst dein Gerippe
erhebst dich und
der Schatten Ernst Jandls folgt dir
Ich gehe zum Kleistgrab nach Wannsee
die Selbsttötung der Dichtung betrauernd
und du fährst nach Wien
II.
Berlin läßt nicht locker
Der Potsdamer Platz ruft dich
Sie sind wieder hineingewachsen
deine Gebeine in die ausgelatschten Schuhe
eures gemeinsamen Lebens
So bereift bist du reisefertig
Die Wunden im Sand schließen sich
Auf deinem Herzen trampeln Touristen
Noch immer Ernst Jandl am Lesetisch
und du sagst es war am Küchenfenster
beim letzten Mal
Es ist schwer
einen Mann auszukehren
Auch die Berliner Stadtreinigung
hat keinen Container für Gedichte zwischen Hochhäusern
Der Verkehr für einen Abend beruhigt
Ein kollektives Lauschen
deiner staubigen Stimme
Knarrende Dielen beim Abgang -
Der Abendstern ist dem Cherub gewichen
Aus: Jenny Schon, BaumGespräche, Gedichte,
Geest Verlag, 2024.