Sönke Zander - Im Mittelpunkt der Welt
Im Mittelpunkt der Welt
Wenn du ein Boot hast, sei‘s nur ein kleines,
aber seetüchtig genug, um dich ein oder zwei Meilen weit
hinauszubringen ins Wattenmeer,
dann hast du die Chance,
etwas Wunderbare zu erleben.
Segle hinaus, dann wirf den Anker aus
irgendwo auf der glitzernden Fläche:
Warte noch auf den Ruck, wenn er gefasst hat,
und prüfe die Spannung der Kette, daran der Ebbstrom
ärgerlich rüttelt und zerrt, und dann gib dich hin
der großen, großen Ruhe. Betrachte die Wolken oder
schließe die Augen. Du wirst sie wieder öffnen,
wenn du das leise Plätschern der Seehunde vernimmst,
die herbeigeschwomrnen sind, um dich neugierig
zu beäugen. Das alles ist schon sehr gut,
aber es kommt noch besser:
Denn wenn die Großäugigen ihre Neugier
befriedigt haben und mit dem letzten Ebbwasser
weggeschwommen sind, und wenn du dann endlich
den leichten Stoß gespürt hast, mit dem· das Boot
auf dem Grund aufsetzt, dann träumst du erst noch ein wenig,
und schließlich ist sie da, die große, große Verwandlung.
Wo vorhin noch Meer war mit seinen kleinen Wellen
und gluckernden Geräuschen, ist jetzt eine riesige
Wüstenei aus Sand. Und mittendrin dein kleines Boot,
unbeweglich, unerreichbar. Nichts und niemand – vorausgesetzt,
du hast dein Handy ausgeschaltet - kann dich stören,
verdrießen, beunruhigen.
Und mit einem Mal bist du dir ganz sicher:
Der Mittelpunkt der Welt
ist hier.