Silvia Naujoks - Mutter weint leise

Silvia Naujoks
Mutter weint leise


Mutter weint leise.
Vater schreit laut.
Wir sind Flüchtlingskinder.
Mutter näht Kleider.
Vater trinkt Bier.
Wir spielen draußen.
Mutter lernte Schneiderin.
Feuer regnete nieder.
Mutter war mittendrin.
Vater war Soldat.
Er wurde gefangen.
Er suchte Minen.
Minen explodierten plötzlich.
Vater blieb heile.
Karl ward getroffen.
Vater sammelte Menschenreste.
Vater begrub Körperteile.
Vater schrie grell.
Mutter lachte nie.
Vater arbeitete viel.
Beide wollten Ruhe.
Wir spielten draußen.
Wir besaßen Holzpistolen.
Wir spielten Krieg.
Feinde wurden erschossen.
Agenten wurden gefesselt.
Das war normal.
Ich bin dreißig.
Kinder spielen draußen.
Kinder besitzen Plastikpistolen.
Kinder spielen Krieg.
Feinde werden erschossen.
Agenten werden gefesselt.
Kinder rufen laut.
Sie brüllen Worte.
Worte hallen nach.
Worte verschleiern Taten.
Worte beschönigen Kriege.
Worte demütigen Opfer.
Schier grenzenlos ist der Schrecken über das Spiel.
Schier grenzenlos ist der Schrecken über die Worte,
Worte, die auch mir gehörten!
Ich wäre so gerne frei.
Ach, wären doch Kriege
im Außen und im Innen,
im Gestern, im Jetzt, im Morgen
vorbei!