Stephan Brosch, Die Steine vor dem Haus

Stephan Brosch, Halle (Saale)
Die Steine vor dem Haus

1993: Ich bin 4 Jahre alt. In Solingen, meiner Nachbarstadt, sterben 5 türkische Migrantinnen bei einem Brandanschlag von Neonazis.
Im November 2011 wird Beate Zschäpe, das überlebende Mitglied des NSU, festgenommen. Ihre Eltern leben zwei Häuser von meinem Wohnblock in Jena entfernt.
Oktober 2015: Ein Rechtsextremist greift die freie Kandidatin für das Kölner Oberbürgermeisterinnen-Amt Henriette Reker an. Sie ringt nach einem Stich in den Hals um ihr Leben, während ich die ersten Seiten meiner Bachelor-Arbeit schreibe.
Beim Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft am 19. März 2019 zwischen Deutschland und Serbien werden die beiden Spieler Leroy Sané und Ilkay Gündogan ethnizistisch beleidigt. Der Sportreporter André Voigt stellt sich dem entgegen und ihm wird im Anschluss die Vergewaltigung seiner 2-jährigen Tochter angedroht. Noch in der Nacht schreibe ich einen Text.
Am 2. Juni 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübke vor seinem Haus von einem Rechtsextremisten erschossen.
Am 9. Oktober erschießt ein Rechtsterrorist bei einem Anschlag auf eine Synagoge in meiner neuen Heimatstadt Halle an der Saale zwei Menschen.
Und am 19. Februar tötet in Hanau ein Täter mit ethnizistischen Motiven 9 Menschen.
Es ist genug, habe ich mir letztens gedacht. Es wurden genügend Witze über Asiaten und Deutsche gemacht. Und lan-ge genug stand ich mittendrin mit ironischem Grinsen, ach wie sehr würde ich mir wünschen, dass es einfach aus mei-nem Gesicht gefallen wäre. Denn was ich eigentlich sagen wollte, ist irgendwie untergegangen. Lustige Anekdoten – die kommen immer gut an. Und deshalb hab ich sie nicht ge-schwungen, die Moralkeule, wie ein Berserker die Axt voller Furor im Wald der Diskriminierung und Vorurteile.
Denn wir sind doch im Großen und Ganzen ein tolerantes Land und niemand kriegt gern seine eigenen Fehler aufgezeigt. Weil es unangenehm ist, weh tut und einfach keinen Spaß macht. Denn wir sind ja so offen und freundlich, so pluralistisch, was auch immer das heißen mag, aber es klingt wie Plural, und das sind immerhin mehrere.
Aber dann ist da diese eine Sache, die ich einfach nicht verstehe. Wir schauen so häufig einfach nur auf die Welt, anstatt zu versuchen zu erkennen, was uns im Innersten ge-meinsam hält. Und wir schauen nur kalt mit den Augen und bilden Gruppen. Die einen sind weiß, die anderen schwarz, braun, gelb, rot, mauve, es gibt immer was zu gucken. Und dann stehen wir da in unserem monochromen Kreis und re-cken die Arme gen Himmel und deklamieren „O tempora, o mores“, weil wir Angst vor Veränderung haben, als würden wir sofort dem Verfall der Sitten und Werte in den Schoß fallen, ganz wehrlos, ehrlos und haltlos. Wir schauen nur auf uns und hassen alles Fremde, wüten, rasen, geifern, über die Ma-ßen erzürnt ereifern wir uns als Menschen über andere Menschen, einfach nur, weil sie eine andere Hautfarbe haben – sollten doch eigentlich schauen, was wir gemeinsam erreichen, statt nur zu Hüllen und Leichen eigener Einsamkeit zu gereichen. Haben wir alle denn gar nichts gelernt? Wo es hin-führt, wenn Hass in die Herzen fährt? Wo es hinführt, wenn einige wenige laut hetzen und schreien, andere, die keine Lust haben zu denken, fallen mit ein. Und ein großer Teil schließt die Augen und schweigt, während der Faschismus seine hässlichste Fratze aufzeigt.
In der Straße, in der ich wohne, liegen sechs Stolpersteine im Boden. Zeigen ehern als drohende Mahnungen nach oben.
Hier wohnte Clara Loewendahl, Jahrgang 1885, vor der De-portation Flucht in den Tod 13.4.1942
Hier wohnte Paula Loewendahl, Jahrgang 1869, vor der Deportation Flucht in den Tod 15.9.1942
Hier wohnte Selma Loewendahl, Jahrgang 1872, vor der Deportation Flucht in den Tod 16.9.1942
Hier wohnte Günther Baer, Jahrgang 1913, Deportiert 1.6.1942, Sobibor, Ermordet 3.6.1942
Hier wohnte Chana Baer, Jahrgang 1941, Deportiert 1.6.1942, Sobibor, Ermordet 3.6.1942
Hier wohnte Paula Baer, Jahrgang 1921, Deportiert 1.6.1942, Sobibor, Ermordet 3.6.1942
Das sind sechs Tote von weiteren 6 Millionen Toten, über die man sagte: Vor tausend Jahren oder so, da waren wir mal unterschiedlich, können deshalb jetzt nicht zusammenleben, das wäre zu bedrohlich. Klingt das Ganze eigentlich nur in meinen Ohren komisch?
Das ist alles gleichzeitig lange und doch noch nicht so lange her. Ist jetzt alles anders? Ich wünsch‘ es so sehr.
Und ich höre sie schon, die Kritik: „Was will der denn, der Typ ist total verrückt. Wir haben doch aus den Fehlern gelernt, gegen Hass und so wird sich vernünftig gewehrt!“
Und andere sagen: „Sei ruhig, krieg dich bloß wieder ein, das war damals und wird heute nie wieder so sein.“  
Ist das so? Sind wir als Gesellschaft so sehr gewachsen und haben gelernt, über die Grenzen unserer Nasenspitzen zu schauen?
Ich bin im Kindergarten, die anderen Kinder stecken mich in eine Regentonne, schlagen dann mit Stöcken auf die Tonne und rufen laut im Chor „Chingchangchong, Chinesen sind voll dumm“. Ich bin 13 und im Sportverein. Alle nennen mich Fidschi und ziehen sich mit ihren Fingern die Augen lang oder drücken sich die Nasen ein, wenn sie mich sehen. Es ist 2012. Auf einer Party erzählt mir eine dralle Bayerin, ich sei ja gar nicht wirklich deutsch, denn Deutsche wären eben weiß. Es ist 2014. Ich bin mit Freunden abends in einem Park unterwegs. Uns kommt ein Fackelzug entgegen, 10 bis 12 Leute, sie passieren uns erst, dann ruft einer „das sind Ausländer“, die Lichter der Fackeln hüpfen plötzlich hektisch auf und ab, während sie die Verfolgung aufnehmen, wir rennen so schnell wie wir können weg, während jemand ruft „wo seid ihr, ihr scheiß Ausländerfotzen“. Es ist 2017. Meine neue Vermieterin ruft bei meiner alten Vermieterin an und fragt, ob ich denn wirklich deutsch sei, ich würde verdächtig ausländisch aussehen, und sie will Deutsche, denn die Ausländer sind schmutzig und stinken.
Das sind die Anekdoten in meiner Geschichte, bei denen niemand mehr lacht. Aber ich leite daraus keine Allgemeingültigkeit ab. Ich wünsche mir nur, dass wir zusammenfinden und die Grenzen und Schranken im Kopf überwinden. Und wenn jemand sagt „Weil du anders bist, knalle ich dich ab“, dass alle hingehen und sagen „tut uns leid, doch in unserer Gesellschaft ist für so etwas einfach kein Platz“.
Lasst uns dieses Mal einfach rechtzeitig sein und nicht wie ich am Ende vor den Steinen von Paula, Günther, Chana, Selma, Paula und Clara stehen und weinen.