Geschichten, die Mut machen - Wunderbare Buchpremiere von 'Ich pack' es' gestern im Ratssaal der Gemeinde Goldenstedt

Ein gutes halbes Jahr haben wir mit Menschen aus den Selbsthilfegruppen geschrieben, Briefe, die sie an sich selber schrieben mit dem Inhalt, warum Selbsthilfe für sie so wichtig ist, aber auch über für sie wichtige Orte, für sie wichtiges Essen. So entstand ein Buch voller Mutmachgeschichten, das gestern im Ratssaal der Gemeinde Goldenstedt vorgestellt wurde. Die Gemeinde Goldenstedt hatte zur Premiere eingeladen und viele der Mitwirkenden waren gekommen. Nun konnten Sie eigene Geschichten hören und lesen. Eine tolle Buchpremiere, die berührte. Die Presse berichtet in den nächsten Tagen ausführlich. Hier aus dem Nachwort von Verlagsleiter Alfred Büngen:

Fast ein halbes Jahr hatte ich in Zusammenarbeit mit der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbands für Oldenburg e. V. die Möglichkeit einer vielseitigen Begegnung. Mit zahlreichen Selbsthilfegruppen im Landkreis Vechta galt es, jeweils eine Schreibwerkstatt durchzuführen. Zielsetzung dabei war, das vorliegende Buch mit Beiträgen über das Selbstverständnis der Mitglieder der verschiedenen Gruppen zu füllen. Die Fragestellung lautete: Wieso sind Selbsthilfegruppen wichtig? Doch, um es vorwegzunehmen, es wurde viel mehr. Es wurde zu einer Herausforderung an die eigene Persönlichkeit, zu einer erheblichen Erweiterung der eigenen Sicht auf das Leben.
Doch der Reihe nach. Jeder Besuch bei den Selbsthilfeeinrichtungen war etwas Besonderes. Unabhängig davon, an welchem Ort die Gruppen tagten, man wurde stets herzlich willkommen geheißen. Im Regelfall warteten bereits Kaffee und Kuchen oder andere Köstlichkeiten, die die Mitglieder der Gruppe mitgebracht hatten. Stets hatte man das Gefühl, hier ist man gern gesehen. Nie fühlte man sich fremd. Sicherlich spielte dabei eine Rolle, dass ein Mitglied der Kontakt- und Beratungsstelle bei den meisten Treffen dabei war. Sie stellen ein unschätzbar wichtiges Bindungsglied für alle Selbsthilfegruppen dar. Bei jedem Besuch wurden so ganz nebenbei auch wichtige organisatorische und inhaltliche Fragen abgeklärt.
‚Sich nicht fremd fühlen‘, das war mein erster Gedanke bei allen Gruppen, mit denen wir geschrieben haben, ‚eine herzliche Aufnahme finden. Sicherlich eine entscheidende Größe, wenn eine neue Person in solch eine Gruppe will‘, das war mein eindeutiges Empfinden. Keine Aufdringlichkeit, keine besondere Problemnachfrage, eher ein unverfängliches Gespräch, sodass man eine Begegnungsscheu verliert.
Doch in jeder Gruppe gab es dann rasch den Punkt, an dem man mit der eigentlichen Aufgabe, dem Schreiben, beginnen konnte. Und es war wirklich, auch im Vergleich zu vielen anderen Gruppen, mit denen ich bereits Schreibseminare durchgeführt hatte, bemerkenswert, mit welcher Offenheit die Mitglieder an das eigene Schreiben gingen. Die Aufgabe war jeweils leicht erklärt und dann wurde auch schon losgeschrieben. Dies war umso bemerkenswerter, als das Schreiben für viele von ihnen nicht zur täglichen Routine gehört. Was jedoch noch auffallender war, fast alle lasen anschließend ihre Texte über ihre persönlichen Seelenorte, ihr Seelenfutter und ihre an sich selbst oder Außenstehende geschriebenen Briefe über die Bedeutung der Selbsthilfegruppe vor und kamen sofort in eine Gesprächssituation. Dabei floss auch manche Träne, zeigte dies die Tiefe, die solch ein Schreiben beim Schreibenden (und auch beim Hörenden) auslösen kann. Schreiben ist stets Reflexion eigener Situation, eigenen Fühlens und Denkens, denn der Schreibende muss überlegen, wie er für das, was er mitteilen möchte, Worte, Begrifflichkeiten findet. Und jeder fand, so zeigen es auch die Texte in diesem Buch, eigene Worte, um seine Empfindungen auszudrücken.
In jeder der Selbsthilfegruppen bestand eine solche Offenheit im Gespräch über das Geschriebene, dass ich, obwohl Außenstehender, innerhalb kurzer Zeit in die Diskussion einbezogen wurde. Ich konnte nachfragen, Position beziehen. Jeder antwortete offen, nahm auch die Antwort des anderen an.
‚Wenn wir doch nur auch im Alltag eine solche Gesprächsoffenheit und auch Gesprächskonzentration hätten‘, überlegte ich mehr als einmal.
Diese Offenheit, aber auch die Zielgerichtetheit im Gespräch und die Kritikfähigkeit zeichnen die Selbsthilfegruppen aus. Deutlich sichtbar auch eine flache Hierarchie, oftmals war kaum zu merken, wer die Gruppe eigentlich leitete. Und niemand, der sprach, wurde wegen einer Äußerung durch abfällige Bemerkungen oder auch Gesten diskreditiert. Hier waren Orte, an denen zugehört und gemeinsam reflektiert wurde. Hier wurde selbst im Gespräch geholfen, wenn jemand aufgrund seiner Einschränkung Formulierungsprobleme hatte. Oder bei fast allen Gruppen das wunderbare Verhalten, dass nur einer sprach, man ihn ausreden ließ, niemand unterbrochen wurde, auch wenn es bei dem einen oder anderen lange dauerte, einen Gedanken zu Ende auszuformulieren. ‚Ja‘, so ging es mir durch den Kopf, ‚hier muss niemand Angst haben zu reden. Hier wird die Fähigkeit eines jeden respektiert, hier wird jeder so angenommen, wie er ist.‘
Da das Schreiben über die Bedeutung der Gruppe für manche Teilnehmer und Teilneh-merinnen, wie bereits oben dargestellt, gelegentlich intensive Emotionen auslöste, hatte ich manchmal Sorge, dass es die Einzelnen zu stark belastete. Doch das war keinesfalls so. Man fing sich untereinander auf, weinte mit, tröstete und bestärkte. Ja, hier sind Gruppen, in de-nen man aufgefangen wird, in denen man seine jeweilige Problemstellung formulieren kann. Hier ist man unter Gleichbetroffenen, hier muss man nicht alles erklären, da die anderen wissen, wie es einem geht.
Doch es passierte noch viel mehr. Jedes Schreiben mit einer Selbsthilfegruppe veränderte ein Stück weit mich selbst. Welchen Mut zeigten viele Menschen, mit ihrer Einschränkung zu leben, damit umzugehen. Viele Selbstverständlichkeiten im Alltag, die ich selbst nicht als so wertvoll eingeschätzt habe, sehe ich seither in einem anderen Licht. Was heißt es, ein funktionierendes Sprachsystem zu haben, einen halbwegs gesunden Körper, ein Gedächtnis, das einen nicht im Stich lässt? Und wie schafft man es, wenn man eine zum Teil massive Beeinträchtigung hat, doch so aufrecht und gut gestimmt in jeden Tag zu gehen? Welcher Mut gehört dazu, teilweise ein komplett neues Leben aufzubauen?
Eines ist mir jedenfalls klar geworden: Ohne die Solidarität der Gruppe, ohne die Infor-mationen und die Hilfe würde vieles bei dem einen oder anderen Betroffenen nicht so gut funktionieren. Nach all dem Schreiben kann ich nun die Bedeutung der Selbsthilfegruppen nicht hoch genug einschätzen. Sie leisten, sich gemeinsam in der Problemlage verstehen und helfen, sich gegenseitig Mut geben.
Meine Hochachtung für jedes einzelne Mitglied der Selbsthilfegruppen und meinen Dank für die Offenheit, mit der Sie mir alle in diesem Projekt begegnet sind!