12. März - aktueller Autor - Jürgen Buss
Jürgen Buss wurde 1947 in einem Dorf in Schleswig-Holstein geboren, verließ mit 16 Jahren das Elternhaus, lernte Gärtner, zog nach Berlin und bestand 1975 die Staatsprüfung zum Gartenbauingenieur. Anschließend Ausbildung zum Lehrer und ab 1989 Schulleiter einer Weddinger Grundschule.
Verheiratet, zwei Kinder und drei Enkelkinder.
Nach der Pensionierung begann er den Roman „Ein Nazikind“ zu schreiben, in dem ein Sohn nach Spuren seines 1960 offiziell verstorbenen Vaters sucht und diese findet.
Veröffentlichungen im Geest-Verlag
Hinter Gartenmöbeln, leeren Holzkisten und einem zerfledderten Sonnenschirm fiel mein Blick auf einen Stoffzipfel. Er flatterte, von der Sonne durch die Dachluke beschienen, unter einer Dachsparre. Ich zog an ihm und hielt ein graubraunes, stark durchlö-chertes Stück Leinenstoff in der Hand, in das etwas eingewickelt war. Nach dem Lösen des Überschlags bekam ich weißgraues Papier zu sehen, in das eine Nadelspange, ein Blechschild und ein Bild eingeschlagen waren.
Ich war offensichtlich auf ein Versteck gestoßen. Um besseres Licht zu erhalten, kroch ich vom Spitzboden herunter. Die Fundstücke in meinem T-Shirt verstaut, stand ich im Flur, dem Zentrum des lang gestreckten Hauses. Links lagen das ehemalige Kinder- und das elterliche Schlafzimmer. Ich wandte mich nach rechts, ging durch die Wohnküche ins Wohnzimmer, von dem aus man hätte weiter in den Friseurladen gehen können.
Im Wohnzimmer breitete ich meine Funde auf dem Teppich aus. Das, was ich für Einwickelpapier gehalten hatte, war ein Zeitungsausschnitt, den ich halblaut vor mich hinmurmelnd nun entzifferte.
Altgraubach, im Juli 1948
Massengrab entdeckt
In diesen Tagen können uns Todesmeldungen und Gräueltaten kaum noch überraschen, aber das, was den Friedhofsbesu-chern von Altgraubach in diesen Tagen widerfuhr, sprengt den Rahmen: Blanke Menschenknochen, abgenagte Fingerglieder und kahle Schädelplatten ragen aus dem Boden der Randwiese ihres Gottesackers.
Mit Abscheu stehen die Menschen davor und fragen sich, wer verantwortlich für den Tod so vieler Menschen ist, wer zur Re-chenschaft gezogen werden muss für die beiläufige Verschar-rung unzähliger Toter.
Unwillig brummelt der Friedhofswärter in seinen Bart: „Hätten wir nicht die Bretter zum Ausschlagen eines neuen Grabes gebraucht, wäre das Massengrab wohl noch lange nicht ent-deckt worden!“
Altgraubach ist müde, müde und erschöpft wie unzählige Men-schen in aller Welt nach diesem grauenhaften Krieg. Auf den Straßen rund um die Kirche ist es ruhiger als sonst. Die Men-schen haben Ringe unter den Augen, sie reden nicht viel. Sie gehen aufs Feld, fahren mit dem Fahrrad ins nächste Dorf, treiben die Pferdefuhrwerke zur Arbeit, so, wie sie es seit Kriegsende wieder machen, still, in sich gekehrt, nachdenklich.
Die Dame in dem schwarzen, langen Kleid und dem dunklen Hut wendet sich kopfschüttelnd ab, sie ist nicht bereit, etwas zu sagen. Ihre Körperhaltung, ihre verweinten Augen lassen ahnen: Sie hat Leid im Übermaß erdulden müssen.
Eine junge Frau mit einem frischen Wiesenblumenstrauß in der Hand auf dem Weg zu einem verstorbenen Angehörigen, bleibt kurz stehen, ruft: „Fragen Sie den Bürgermeister“, und geht eilig weiter.
Diesen Weg kann ich mir ersparen, der Pfarrer steht an der kleinen Eingangspforte zum Friedhof und winkt mich zu sich.
„Lassen Sie die Leute in Ruhe“, sagt er mit seiner sonoren Stimme: „Verscharrt wurden die Toten vor gut drei Jahren, als die Russen hier durchkamen. Dorfbewohner mussten ran, ob-wohl sie mit dem Töten nichts zu tun hatten. Wer am Kriegsen-de im Dorf lebte, sagt, es war die SS, die die Menschen um-brachte!“
Eine Nachfrage bei der Bezirksregierung ergibt, dass Kriminal-beamte aus Wien geschickt werden sollen, die das Massengrab ausheben und das Verbrechen aufklären sollen.
Wie lange wird uns das Morden und Töten noch begleiten, das fragen sich auch die Menschen in Altgraubach, die kopfschüttelnd vor dem grausigen Fund stehen.