Jürgen Klaubert - Meine Welten
Jürgen Klaubert
Meine Welten
Wir sind am Maschsee. Ich werde in meinem Rollstuhl über den Asphalt geschoben. Erst mal an einer Imbissbude etwas essen. Fritten, Chicken Nuggets. Kein Getränk. Sonst muss ich pinkeln. Das ist zu umständlich in fremder Umgebung. Zusätzlich zur Gehbehinderung bin ich sehbehindert. Oder umgekehrt. Ehefrau und Sohn beschreiben mir die Umgebung.
Am Seeufer füttert der Sohn Enten und meine Frau fotografiert, wie die Enten die Brotkrumen schlucken. Schwäne schwimmen vorbei.
Spaziergänger unterhalten sich laut über ihre Alltagsthemen und über andere Menschen. Radfahrer jagen links und rechts an mir vorbei. Jedes Mal erschrecke ich, wenn ein Gefährt vorbeirauscht.
Hätte nicht die Sehbehinderung gereicht? Mussten auch noch die Gelenke versagen und nach einem Rollstuhl rufen? Ja. Mussten sie. Halt den Mund. Es ist so. Du wirst es nicht mehr ändern. Sei froh, wenn es so bleibt, wie es ist. Die Schmerzen erträgst du. Es denkt sowieso niemand, dass man im Rollstuhl sitzt, weil man Schmerzen hat. Meist denken die Leute „Rollstuhl: Also kann er nicht laufen. Sehbehindert: Also sieht er schlecht.“
Spaziergänger, Radfahrer, spielende Kinder – sie scannen mich. Ich werde betrachtet. Mitleidig, verständnisvoll, ver-ständnislos, erschrocken, ablehnend, gutmütig, mitfühlend. In Bruchteilen von Sekunden. Sonst wäre es für die meisten nicht zu ertragen. Wer will „das“ an sich heranlassen? Kinder fragen „Papi, was hat der?“
Ich sitzliege da. Schatten huschen vorbei. Enten streiten sich, Kinder plärren, Mütter beruhigen, Väter quatschen klug.
Ich habe mehr als zwei Beine, habe viele Beine. Sie sind kräftig, männlich, schnell, trainiert. Während die Enten gefüttert werden, konzentriere ich mich auf meine vielen Beine.
Hinter meinen Augen, die wegen der Lichtschutzbrille kaum zu sehen sind, habe ich viele Augen. Tausende Augen habe ich, die alles sehen, was auch immer ich sehen möchte. Ich konzentriere mich auf meine tausend Augen. Egal, ob neben mir Kinder, Mütter, Väter oder Enten schnattern.
In einem meiner tausend Gehirne höre ich ein Lied von Faron Young: „Live Fast, Love Hard, Die Young!“ Okay. Love hard ist mir vielleicht gelungen. Der Rest nicht. Dann singt es in ei-nem weiteren Gehirn eine Zeile aus „White Rabbit“ von Jef-ferson Airplane: „Feed Your Head“. Ich frage mich „mit Gras?“ Kate Bush singt „Running Up That Hill“. Okay, mach ich, Ka-te, kein Problem.
Dann breite ich meine Flügel aus. Fliege durch die Lüfte zu meinen geliebten Raben. Setze mich auf einen Baum zu meiner Rabenfamilie. Ich frage meinen Rabenfreund: „Habe ich etwa ein Kaninchenbausyndrom?“ Er antwortet: „Frag Alice!“
Plötzlich setzt sich mein Rollstuhl in Bewegung. „Papi, wir müssen los! Sonst verpassen wir den Zug nach Hause!“ Ich denke, oh, hat das Kaninchen ihm die Uhrzeit gesagt? Dann rufe ich laut: „Sattelt die Hühner, wir reiten nach Fort Lara-mie!“ Der Sohn sagt lachend zu meiner Frau: „Der Typ ist einfach nur peinlich …!“
(Beitrag gekürzt)