Julia Meisinger - Höllentor (Geschrieben in der Gedenkstätte Ravensbrück)

Höllentor
Julia Meisinger

Der unsichtbare Strick um Hals und Handgelenke wird ihr immer und immer fester zugezogen, je näher sie an das Tor herantritt.
Kurz davor, bei ihrer Ankunft, hatte sie noch Freudenträ-nen geweint. Das kindliche Glück, eine Hoffnung zu er-halten, hat ihr den Mut gegeben, überhaupt aus dem so vollen, so elenden Zugabteil zu steigen. Denn die Hellig-keit, die sie umfing, versprach ihr schon ein besseres Schicksal als im vorherigen Lager. Und die Bäume, die blühend die Wege umsäumten, die schönen Häuser da-hinter und der See! Oh, welch´ wundervoller See, auf dem das reflektierte Licht des sonnigen Tages wie der herbeigesehnte Segen Gottes war.
Aber plötzlich schnappten die wilden Hunde nach ihr, und eine Schreckenskralle zerquetschte ihr Herz, wäh-rend sie um die Ecke stolpern musste und gezwungen wurde, nach vorne zu starren.
Die Kralle tötet immer noch.
Und vor dem breiten Durchgang in der dicken, rauen Mauer mit den Ketten dahinter türmen sich andere zer-störte Herzen, die das Blut in den eigenen Adern ver-gessen haben, als das schwarzversteinerte Feld hinter dem Ende der Schönheit sichtbar geworden ist und die Reihen der langen, vergitterten Baracken das nie enden-de Leid ankündigen.
So wie sie es bei ihr tun. Das Gebrüll, auf das sie zu-kommt, und die gestreiften Stoffbahnen, die ihr das Schamgefühl vor wuttreibender Blöße in die Knochen stanzen werden, und die lechzenden Blicke von nach neuem Fleisch Hungergetriebenen warten mit offenen Armen auf sie, um sie tiefer in ein unmenschliches Ver-derben zu reißen.

Ihr gelebtes Leben endet, als sie nackt in der plötzlichen Kälte steht und nun auch ihr Name gestanzt wird.
Auf ein Todesurteil, in dem Licht.


(Es gibt viele Berichte von Gefangenen, die darstellen, dass der See und die Blumenbeete vor dem Tor des Lagers Ravensbrück ihnen bei der Ankunft für einen letzten Moment grausame Hoffnung gemacht haben.)