MARTIN TRETOW, Die Diagnose


MARTIN TRETOW,
Die Diagnose

Ich sehe die Bilder noch vor mir.
Auf dem Parkplatz vor der Uniklinik sitze ich im Heck meines silbernen Opel Astras und rauche in aller Ruhe eine Zigarette.
Vor wenigen Minuten hatte ich die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (kurz: ALS) bekommen und stand ein wenig neben mir. Zu dem Zeitpunkt waren mir die Folgen und Aus-wirkungen dieser Krankheit noch nicht bewusst. Der Professor klärte mich diesbezüglich auch gar nicht weiter auf. Dass die ganze Sache für mich tödlich enden sollte, die Lebenserwar-tung bei zwei bis fünf Jahre lag, erfuhr ich später durch das Fernsehen. Auf der Heimfahrt war ich nahezu entspannt. Ich kannte zwar den Namen der Erkrankung, aber nicht, was noch alles vor mir und meiner Familie lag.
Da ich mich strikt weigerte, im Internet Informationen über die Krankheit einzuholen, war meine Familie bald besser im Bilde als ich, was mir damals gar nicht in den Sinn kam. Ich war sehr stur und hatte große Angst, mehr über ALS zu erfah-ren. Überall zeigte ich mich gut gelaunt und äußerst positiv gestimmt, wenn es um mich und meine Erkrankung ging, die mittlerweile ein fester Bestandteil meines Lebens war. Ich wurde zum Weltmeister des Verharmlosens, auch dann noch, als ich ALS komplett verstanden hatte. Niemand in meinem direkten Umfeld sollte sich Sorgen um mich machen. Die Ge-danken, die in meinem Kopf herumschwirrten, reichten voll-kommen aus. Selbst bei der Arbeit zeigte ich mich stets opti-mistisch, obwohl einige Kollegen diese Haltung nicht teilen wollten.
Die Beeinträchtigung betraf zunächst nur meinen rechten Fuß. Da ich ihn nicht mehr richtig anheben konnte, stolperte ich des Öfteren und legte mich bald regelmäßig lang. Vor der Haustür mit den Einkäufen in der Hand, vor dem Supermarkt mitten auf dem Parkplatz oder auf dem Weg zur Physiothera-peutin. Mir war das immer äußerst unangenehm, somit stand ich stets schnell wieder auf, damit auch keiner etwas mitbe-kommen konnte. Ständig den äußeren Anschein wahren, mir geht es blendend, alles in bester Ordnung ...
Ich war damals ein sehr sportlicher Mensch. Ich spielte Fußball in einem Verein, einmal die Woche Squash, ich liebte es, mit den Kindern Inliner zu laufen und mit der Familie Rad zu fah-ren. Auch Joggen stand auf meiner Sportliste, um konditionell auf der Höhe bleiben zu können. Zu meinen Lieblingsbeschäf-tigungen gehörte das Laufen allerdings nicht. Als ich es später noch mal mit dem Joggen probierte, musste ich ganz schnell feststellen, dass es sich hierbei um einen sinnlosen Versuch handelte. Es war eine einzige Stolperei, und wenn meine Tochter nicht dabei gewesen wäre, hätte ich am liebsten ein-fach losgeheult. Ich legte mir sogar ein Ergometer zu, mit dem ich im Keller meine Runden drehte. Aber auch diese sportliche Betätigung war schon bald nicht mehr zu bewälti-gen.
Mein Körper ließ mich nach und nach im Stich, und als ich zum wiederholten Mal bei der Arbeit stürzte, war auch diese nicht mehr möglich.
Es folgte eine fünfwöchige Reha, in der man mir einen Roll-stuhl ermöglichte, wodurch die Krankheit nicht mehr zu ver-heimlichen war. Trotzdem traute ich mich höchst selten in die Öffentlichkeit, weil ich mich vor erstaunten und mitleidigen Blicken schützen wollte. Aus denselben Gründen verweigerte ich sämtliche Besuche, die alle nur gut gemeint waren.
Jetzt, da ich schon dreieinhalb Jahre ans Bett gebunden bin, sehe ich das Ganze wesentlich entspannter. Ich habe keinerlei Schmerzen, die Pflege ist fürsorglich und meine großartige Familie gibt mir Kraft und Zuversicht. Über ALS kann ich aus-führlich reden und, wie ihr mit eigenen Augen sehen könnt, auch schreiben.
Das Schreiben und das Dichten erfüllen mich mit Freude und bestimmen meinen Alltag. Für meinen Kommunikator ‚Tobii‘ bin ich unbeschreiblich dankbar und möchte ihn nie wieder missen.
Ich denke, dass ich mich mit meiner Krankheit arrangiert ha-be.
Allerdings werden ALS und ich niemals Freunde.