Rudolf Schlabach - Weihnachten

Weihnachten

Mutter ist erschöpft von den Vorbereitungen:
Der Rummel in den Kaufhäusern während
Der stillen Zeit des Advents, die Strapaze,
Alle Geschenke für die Familie zusammenzukriegen,
Das lange Stehen beim Fleischer, beim Konditor
Und besonders in den Delikatesswarengeschäften.

Endlich ist es soweit. Der Baum ist geschmückt –
Das ist Vaters Beitrag zum Fest – die elektrischen
Kerzen sind eingeschaltet, Mutter fordert auf:
Tretet ein zur fröhlichen Feier ins Wohnzimmer!

Vater wagt gar nicht mehr, das Weihnachtsevangelium
Vorzulesen: ein zu alter Hut, wie die Erfahrung
Gezeigt hat, da hilft auch die allermodernste
Übersetzung nicht mehr. Die Kinder machen Musik:
Harald spielt Querflöte, Petra begleitet ihn
Auf dem Klavier. Mutter ist gerührt. Vater ist
Dankbar, enthebt es ihn doch der Peinlichkeit,
Weihnachtslieder singen zu müssen.

Sie gehen über zum Austausch der Geschenke.
Minutenlang sind sie neugierig und lebhaft damit
Beschäftigt, Päckchen auszupacken und Pakete.
Ausrufe des Erstaunens, der Überraschung! Spontan
Küsst einer beglückt den andern: Wieder einmal
Hat es im Überfluss gegeben. Im Berg von Papier
Schnuppert Ajax, ihr Hund, gelockt
Von erregenden Gerüchen.

Harald gibt kund, dass er Hunger habe. Vater
Meint launig, dass er das verstehen könne. Sie
Beschließen, zu Tisch zu gehen, der festlich
Gedeckt ist. Geschäftig hin und her zwischen
Küche und Esstisch eilt Mutter. Vater findet
Mutters Einfälle für das Festmahl berauschend.
Die Kinder pflichten ihm bei. Mutter
Genießt das Lob.

Sie isst nur wenig: Sie fühlt sich zu abgespannt,
Als dass sich Lust in ihr regen könnte
Zu schmausen. Erleichtert sagt sie sich,
Dass nun Gott sei Dank das Schlimmste wieder
Geschafft ist. Sie nimmt sich vor, an den
Weihnachtstagen gründlich auszuschlafen.

Vater und die Kinder dagegen lassen sich’s
Schmecken. Zu gut, wie Vater lächelnd bemerkt.
Er gießt in die Gläser edlen Wein nach. Mir
Nicht mehr, sagt Mutter, Ich bin schon
Beschwipst. Wovon denn?, meint Vater.
Die Kinder lachen.

Mutter möchte in den Mitternachts-Gottesdienst
Und fragt, wer mitgehe. Harald winkt ab:
Er gedenkt, sobald er in Kürze volljährig wird,
Auszutreten aus der Kirche. Petra fragt:
Wer predigt? Wenn es der stinklangweilige
Pastor Waldmann ist ... Vater sieht nach
Im Lokalblatt. Kein Zweifel, der stinklangweilige
Pastor Waldmann ist an der Reihe, Dann ohne
Mich, bitte, meint Petra entschieden, Vater
Zögert mit seiner Antwort. Dass sie unbedingt
In die Kirche muss, denkt er missmutig. Dann
Geh’ ich eben allein, sagt Mutter, Nein nein,
Will Vater ihr das nicht antun,
Natürlich begleite ich dich.

Das Gespräch schleppt sich hin. Mutter ist
Froh, dass es wenigstens nicht ausartet
Ins Politische.

Was ist denn im Fernsehen, fragt Harald.
Ein Seelenschinken für Einsame, weiß Petra
Bescheid. Ihr wollt doch wohl heute Abend
Das Fernsehgerät nicht einschalten, sagt
Mutter vorwurfsvoll. Kommt gar nicht in Frage,
Spricht Vater ein Machtwort.

Eine Weile herrscht Schweigen. Harald
Fragt, ob jemand was dagegen habe, wenn er
Nach oben auf sein Zimmer ginge. Mutter
Ist enttäuscht, aber sie hat nichts dagegen.
Vater ist froh, dass er vom Tisch aufstehen
Und eine Zigarre rauchen kann. Petra
überwindet sich, Mutter zu helfen
In der Küche.

Von oben dringt laut Musik herunter: Harald
Lässt eine Schallplatte laufen, einen
Schrägen Sound. Unerhört, empört sich
Vater und ruft wütend hinauf: Stell’ den
Mist ab! Dreimal lässt Harald ihn rufen,
Ehe er geruht, den Sound herunterzudrehen
Auf eine erträgliche Phonzahl. Nichts darf
Man, schreit er wütend zurück. Was für ein
Blödes Fest!

Vater schweigt, lässt sich schwer in einen Sessel
sinken, zieht an seiner Zigarre.
Der freche Kerl! denkt er. Wie undankbar!
Doch wenn man jugendlich beweglich ist ...
Irgendwie ... Auch wenn man’s nicht zugeben
Darf ... Man fragt sich tatsächlich.
Was dieses Fest uns wirklich noch bedeutet.
Denn wenn man ehrlich darüber nachdenkt ...
Er wagt nicht, dies weiterzuspinnen.
Unruhig gießt er sich einen Kognak ein.
Seelenschinken für Einsame, denkt er.
Er zieht an seiner Zigarre.
Sie schmeckt ihm nicht mehr.