Weihnachten 1945 - Johanna Grevemeyer

Weihnachten 1945  
Johanna Grevemeyer

„Nicht, was wir erlebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen."
Schade, dass das Zitat nicht von mir ist, aber genau-so wie Garbriel Garcia Marquez empfinde ich auch. Es war in der Adventszeit, als ich sein Buch las, und fast in jedem Jahr, wenn die Lichter am Tannenbaum erstrahlen, schleicht sich die Erinnerung an Weihnachten 1945 ein, das ich als zehnjähriges Mädchen erlebte.
Als Niederschlesien nach dem Krieg unter polnische Verwaltung gestellt wurde, stand eines Tages im Au-gust ein junger polnischer Soldat bei uns in der Küchentür und sagte in gebrochenem Deutsch: „Ab heute alles meine", und machte die entsprechende Handbewegung dazu. Da er ledig war, brachte er eine Haushälterin mit ihren Kindern Jadwiga, 14 Jahre, und Sbischek, 8 Jahre, mit. Sie suchten sich die vier schönsten Zimmer aus, natürlich vollkommen einge-richtet mit all unseren Sachen. Die Kinder hielten sich trotzdem sehr oft bei uns in der täglichen Wohnstube auf. Anfangs dachten wir, nur um uns zu bespitzeln, doch mit Jadwiga und ihrer Mutter, die auch unsere Küche mitbenutzte, entwickelte sich ein recht gutes Verhältnis. Sie lernten durch uns die deutsche Sprache und ich ein paar Brocken Polnisch. Wir konn-ten sogar gemeinsam Weihnachtslieder singen, was mir manchmal über die Furcht und das Grauen vor dem nahenden Christfest hinweghalf, denn von Vater und dem siebzehnjährigen Bruder wussten wir nicht, ob sie noch am Leben waren oder in welchem Gefan-genenlager sie festgehalten wurden. Die Augen der Mutter und der Großmutter blickten immer trauriger, je näher der Heilige Abend rückte.
Nun war er da, der 24. Dezember, und alle waren voller Unruhe und Sorge, denn Hans, der Freund meines Bruders, den unser Pole als Hilfskraft beschäftigte, hatte im Auftrag seines Arbeitgebers am Vortag mit Pferd und Wagen bei einem Umzug helfen sollen und war noch nicht heimgekehrt. Die verzweifelten Eltern befürchteten Schlimmes. Doch welch eine Freude, als Hans gegen Abend erschöpft, aber gesund nach Hause kam! Er war überfallen worden, man hatte ihm Pferde und Wagen weggenommen, ihn aber zum Glück laufen lassen.
Die dahinschleichenden Stunden des Heiligen Abends, vor denen ich mich so gefürchtet hatte, vergingen durch die erneute Aufregung schneller als angenommen. Einen Baum gab es natürlich nicht, auch kein Festessen. Eine liebe Verwandte, die mit uns den
Abend verbrachte, schenkte mir aus ihrem Besitz sechs wunderschöne Taschentücher, über die ich mich ganz riesig gefreut habe. In der Gewissheit, dass Vater und Bruder während des ganzen Abends gedanklich ganz innig mit uns verbunden waren, falls sie noch lebten, gingen wir endlich zu Bett, völlig erschöpft von den angestauten Emotionen. Am nächsten Morgen war mir, als sei mir ein Stein vom Herzen gerollt. Voller Zuversicht stapften Mutter und ich durch den glitzernden Schnee zur Kirche in den Nachbarort.
Nachmittags kamen Jadwiga und Sbischek, um mir ihren großen, buntgeschmückten Christbaum zu zeigen. Er stand in Großmutters schönem ehemaligem Wohnzimmer. Meine Augen glitten sofort zur Baumspitze. Von dort guckte mich meine Puppe Leni an, mit ihrem langen hellblauen Nachthemd als Engelchen verkleidet. Mir stockte der Atem. Ich war so perplex, dass ich kein Wort sagen konnte. Ich glaube, Jadwiga spürte mein ohnmächtiges Entsetzen. Sie ging zum Baum, nahm einige Plätzchen ab und gab sie mir, etwas sehr Leckeres für mich, denn seit Mo-naten versuchte Großmutter, überwiegend aus Kartoffeln, Mehl und Buttermilch abwechslungsreiche Mahlzeiten zu zaubern. Im gleichen Augenblick biss Sbischek blitzschnell in die Plätzchen und besabberte sie mit seinem Speichel. Gedemütigt und verletzt rannte ich davon, doch hörte ich noch, dass Sbischek zurechtgewiesen wurde.
Immer wieder habe ich mich gefragt: Sollte uns als Besiegte unsere Ohnmacht vor Augen geführt wer-den, oder sollte es für Leni eine besondere Ehre sein, als Engelchen fungieren zu dürfen? Versöhnlich nehme ich nun Letzteres an. Und Sbischek war einfach ein ungezogener kleiner Junge.
Ein Jahr später, Weihnachten 1946, war das schönste Geschenk für uns, dass wir alle wieder glücklich ver-eint waren.
Ein neues Leben nahm im Artland nach der Vertreibung aus der Heimat seinen Anfang.