KATHRIN GIOCONDI, Blick zurück und nach vorn
KATHRIN GIOCONDI, BALINGEN
Blick zurück und nach vorn
Bleiern stehe ich da. Mein Blick ist auf jenes Haus gerichtet, welches ein Teil meiner Geschichte ist. Meine Gefühle kann ich nicht greifen. Sie sind mit mir erstarrt. Fühl ich Wärme, Sehnsucht, Nostalgie oder Schwermut? Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass ich mich dem Gebäude genähert habe, bis zum gepflasterten Hof. Das Erdgeschoss besteht aus den zu den Wohnungen gehörenden Garagen. Vor „meiner“ Garage steht ein dunkler Audi. Links am Gebäude vorbei führt ein mit Waschbetonplatten belegter Weg nach oben zum Gar-ten mit der Grillterrasse. War er damals schon mit Moosen bewachsen?
Mein Blick fällt auf zwei Fenster im oberen Stock. Links „mein“ Badfenster. Mein Bad – täglicher Startpunkt in den Tag. Sofort kommen mir die Katzen in den Sinn. Hier habe ich sie jeden Morgen und jeden Abend gefüttert. Zwei wunder-schöne Perser in Rot und in Silberweiß. Jetzt habe ich einen Hund. Rechts „meine“ Küche. Kampfgebiet für eine junge Frau, die alles andere als die geborene Hausfrau war und ist, aber ihre ersten Gehversuche im Kochen wagte. Aber auch Insel der Ruhe und des Glücks mit ihrem frisch Angetrauten. Auf Barhockern an der Arbeitsplatte nach der Arbeit bei einem kleinen Diner die Zweisamkeit genießen.
Zehn Jahre soll ich hier gelebt haben? – Unmöglich! Vor 22 Jahren von hier weggegangen? – Unglaublich!
Der Versuch, mit der Welt klarzukommen. Freunde – Freundschaft – Enttäuschung – schwarze Schatten. Kampf gegen ein Etwas, das für uns keinen Namen hatte. Es lag nicht begreifbar, undurchsichtig dunkel über uns. Über jungen Menschen, denen die Welt offenstand, eigentlich. Große Pläne, schillern-de Ideen – brutal niedergeknüppelt von der dunklen Schwere. Aufbäumen, weitermachen und Etappensiege, auch und be-sonders dank der Liebe.
Die ersten tapsigen Schritte unseres Kindes hier in diesem Haus. Neues Leben – neuer Mut und noch viel mehr Liebe.
Pläne, Häuschen mit Garten, für die Kinder und für uns. Bald würden wir zu viert sein. Umzug, wir sind zu fünft. Liebe mal fünf. Wir konnten für sie da sein, trotzdem …
Schreckliche Monate, Schübe, rauf und runter. Das undurchsichtige Dunkel bekommt Namen. Depression, Zwangsstörung und noch immer viele Fragezeichen. Zusammenbruch, Infarkt, OP. Hände halten auf der Intensiv, halten, halten … Zartes Morgenrot am Horizont … Wir konnten für sie da sein und sind immer noch für sie da.
Ich stehe einfach so hier, unbeweglich, den Blick auf die Fens-ter gerichtet. Die Gedanken rasen wie mein Herz. Das Atmen fällt schwer. Ich schließe die Augen und schreie. Meine innersten Gedanken schreien die Trauer oder das Glück oder die Berg- und Talfahrt oder ich weiß nicht was wortlos durch jede Pore meines Körpers heraus. Wie lange? Ich weiß es nicht. Irgendwann merke ich, der Pegel fällt und es zieht eine wärmende Ruhe bei mir ein. Die Gefühle beginnen sich zaghaft zu formieren. Sie beginnen sich vorsichtig wie eine Gruppe Rehe aus dem Dickicht zu wagen, langsam, Stück für Stück.
Ja, Trauer ist dabei über die verpassten Möglichkeiten, Chancen, über die geraubten Chancen.
Aber auch Stolz blitzt hervor über das trotz allem Geschaffte, Stolz und ein Lächeln. Uns wurde viel verwehrt, aber viel mehr gegeben.
Für all das steht hier die Basis, in Stein. Ein wenig dunkel und doch auch hell. Ein Stein gewordenes Symbol, dass man es schaffen kann. Ein Stück vom Glück trotz Handicap.
Ich verabschiede mich von „meinen“ Fenstern und gehe den moosbewachsenen Waschbetonweg zurück. Schritt für Schritt ordnen sich die Gedanken. Vor dem für mich Schwarz-Weiß-Haus stehe ich nun mit der Gewissheit, dass es sich lohnt wei-terzumachen, nicht aufzugeben. Die vielen, vielen wunderschön sonnigen Erlebnisse waren es mehr als wert.
Danke Schwarz-Weiß-Haus.