Markus Fegers - Begegnung

Begegnung

Gerade habe ich meine Wohnung verlassen, da klingelt das Telefon.
Ein rascher Griff in die Jackentasche und ich nehme das Gespräch an: „Ja bitte?“
„Esther hier, vom Alternativen Kulturforum! Erich, bist du das?“
„Wer sonst?“
„Hast du einen Moment Zeit?“
„Sicher. Wenn’s dich nicht stört, dass ich im Gehen telefoniere – bin gerade auf dem Weg zur Arbeit.“
„Arbeit?“
„Ein Minijob im Copy-Shop“, reime ich. „Der sichert zumindest die Miete. Meine Gage für die paar Auftritte, die ich derzeit habe, reicht ja höchstens für Wasser und Brot.“
„Dass du bei deiner Lesung mit Musik in unserem Haus nur elf Zuhörer hattest, war Pech“, sagt Esther. „Ich meine, wir haben Werbung gemacht wie üblich, aber was willst du in diesen Zeiten erwarten – noch dazu als Lyriker?“
„Ich beklage mich ja gar nicht“, sage ich.
„Hast auch keinen Grund dazu“, sagt Esther, „weil: Wir würden dich gerne für ein Festival buchen.“
„Für ein Festival?“
„Genau. Aber lass uns das nicht besprechen, wenn du in Eile bist. Vielleicht sehen wir uns in den nächsten Tagen? Also, falls du möchtest …“
Natürlich möchte ich.

Wir treffen uns in einem winzigen Park unweit des Kulturforums. Meine halbstündige Anreise per Bahn werde ich hoffentlich von der Steuer absetzen können.
Esther deutet auf eine postmoderne Bronzestatue. „Mädchen mit Friedenstaube“, erklärt sie. „Erinnert an die Opfer der Nazi-Diktatur. Gleich ums Eck stand die prächtige alte Synagoge, bis sie im November achtunddreißig abgefackelt wurde.“
„Wie so viele“, sage ich.
„Genau. Die neue ist übrigens nur ein paar Meter die Straße hinunter. Leicht zu übersehen mit ihrer unauffälligen Fassade, doch zum Garten hin hat sie seit der letzten Renovierung wunderschöne Bleiglas-Fenster. Solltest du dir unbedingt mal ansehen …“
„Bist du Jüdin?“, frage ich überrascht. Sie grinst: „Nur auf dem Papier. Aber unser Forum pflegt enge Beziehungen zur jüdischen Gemeinde. Und während der Umbauarbeiten haben wir ihr ein paar Räume zur Verfügung gestellt.“
„Interessant“, sage ich. „Erzähl‘ bitte mal etwas über dieses Festival …“
„Wird gemacht!“ Dass Esther ohne Punkt und Komma reden kann, weiß ich schon. Auch jetzt scheint sie nur auf ein Startsignal gewartet zu haben. „Also: Geplant ist ein Begegnungsfest – gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde. Termin noch unklar, wird sich aber nicht nach den üblichen Gedenktagen richten. Nicht immer geht es nur um Vergangenheitsbewältigung, weißt du. Erinnerung ist absolut wichtig, keine Frage. Nur darf sie nicht unser einziges Thema sein, und die Angst vor neuem Antisemitismus ebenso wenig. Wir wollen das Miteinander in den Mittelpunkt stellen. Zwei Tage gemeinsam feiern mit jedem, der kommen mag. Gutes Essen, gute Musik – und natürlich Literatur. Gerne unterhaltsam, schließlich waren jüdischer Witz und Humor elementar für die Szene der deutschen Intelligenz vor der Nazi-Zeit. Also nix ‚schwarze Milch der Frühe‘ oder so. Wir haben schon jemanden mit Kishon-Storys an der Hand – warum solltest da nicht auch du ein paar deiner Texte lesen? Wie hast du sie noch genannt? ‚Alltagsgedichte, mal makaber mal heiter‘?“
„Das ist ein Werbespruch“, sage ich. „Und sicher ein bisschen hoch gegriffen.“
„Unsinn.“ Esther schüttelt den Kopf. „Mir gefallen deine Gedichte. Das vom wasserscheuen Duschvorhang zum Beispiel …“
„Hältst du so etwas wirklich für wert, vorgetragen zu werden?“
„Unbedingt! Weil es witzig ist und frech …“
„Danke.“
„Also bist du dabei?“
Der Blick ihrer dunklen Augen lässt keine andere Antwort zu als: „Gerne!“
„Sehr schön“, sagt sie. „Keine Ahnung, was finanziell für dich rausspringt. Aber ganz sicher kannst du bei diesem Event neue Kontakte knüpfen. Literarische und musikalische, denn deine Klarinette wird natürlich auch eingeplant – für eine Klezmer-Session vielleicht oder einfach nur ein bisschen Tanzmucke …“
Sie bricht ab und wirft einen Blick auf ihr Handy. „Oh, mein Gott, schon so spät? Du, ich muss dringend los! Werde von einem Freund erwartet, der mir seine neue Galerie hinterm Bahnhof zeigen möchte…“
Esther springt auf, beugt sich rasch zu mir für ein paar Abschieds-Wangenküsse und hüpft eilig davon.
Und ich? Mir bleibt nur hinterherzuschauen – und mich auf den nächsten Anruf zu freuen.