Lisa Oesterheld - Im Windschatten
Im Windschatten
Im letzten Winter war sie ihm zum ersten Mal aufgefallen, die obdachlose Frau am Eingang der Bahnhofshalle. Sie saß im Windschatten der Mauer des Bahnhofsgebäudes, umringt von Taschen und Plastiktüten, die ihre Habe bargen. Den Kopf hatte sie in ihren Schoß geneigt, die Beine im Schneidersitz angewinkelt und die Augen geschlossen.
Als er vorüberging, hatte sie den Kopf et-was angehoben und ihn kurz angeblickt. Und von Tag zu Tag war ihr Blick weniger ins Leere gegangen, sondern deutlich zu ihm hin, wie bei einem Säugling, dessen Blick im Heranreifen langsam eine Rich-tung bekommt.
Auch der Mann hatte begonnen, die Frau anzusehen. Obschon ihre Gesichtszüge deutlich vom Alkohol gezeichnet waren, sah sie aus, als sei sie einmal sehr schön gewesen. Und in gewisser Hinsicht sogar jetzt noch. In bunte Pullover gehüllt, die wie Ziegel übereinanderlagen, trug sie ei-nen roten Rock über ihren Jeans. Er war weit und glich einem Zelt, das ihre Beine umgab. Wie alt mochte die Frau wohl sein? Auf jeden Fall jünger als er selbst.
Er runzelte die Stirn. Wenn der Kollege, der mit ihm zur Arbeit ging, seine Gedanken jetzt ahnte … Sie trafen sich immer im Vorortzug, der sie in die Kreisstadt brach-te, zur Firma, ein paar Gehminuten ent-fernt, in Nähe des Bahnhofs. Unwillkürlich setzte er sein unverbindliches Lächeln auf, das er täglich wie eine zweite Haut überstülpte. Und ging weiter. Nur den Hinweg nahmen die beiden zusammen, denn nach Arbeitsschluss absolvierte der Kollege sein tägliches Programm im Fitnessstudio.
Der Mann spürte, dass ihm das entgegenkam. Er begann sich zu freuen auf die zarten Begegnungen in der Bahnhofshalle. So ging es Tag um Tag. Etwas Leises und Schönes entspann sich.
Ein paar Tage später, als der Mann sich dem Lagerplatz der Frau näherte, wurde sein Blick nicht erwidert. Sie saß da mit einem Buch. Ganz versunken. Es sah aus wie ein Bildband und sie schien gänzlich davon in Bann geschlagen zu sein.
Der Mann staunte. Der letzte Rest Mitleid verschwand aus ihm. In seinem Staunen breitete sich etwas wie Achtung aus. Sie so zu sehen, ganz anders, als es seinem Bild einer obdachlosen Trinkerin entsprochen hatte. Nachdenklich stieg er in den Zug.
Am nächsten Tag ertappte er sich bei dem Wunsch, ihr ein Buch still neben ihre Taschen zu legen. Er begann zu überlegen, welche Bilder sie wohl freuen würden.
Landschaften, Gemälde, Fotos …? Oder würde sie sich doch eher über etwas zu essen oder zu trinken freuen? Jäh wurde er aus seinen Träumen gerissen! Der Platz, an dem die Frau über Wochen zu finden gewesen war, war leer. Jetzt merkte er, wie zugig es an dieser Stelle war. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen.
An diesem Tag gab er sich keine Mühe zu lächeln, als er das Büro betrat. Und beim Nachhausekommen am Abend empfand er deutlicher als sonst, dass ihn zuhause niemand erwartete.
Nie mehr sah er sie wieder. Lange hatte er noch gehofft, dass sie eines Tages, so wie sie plötzlich gekommen und gegangen war, mit einem Mal zurückkehrte. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Was blieb, war das rote Leuchten ihres Rockes in seinem Inneren und die zur Schale geöffneten Hände, die das Buch hielten – andächtig wie eine Hostie.