Markus Fegers - Das passt (eine besondere Weihnachtsgeschichte)

Das passt!

„Grüße von wem?“
Meine Oma schaut mich an und hebt fragend eine Augenbraue.
„Mbali“, sage ich und stelle den sorgsam in Papier verpackten Blumentopf auf den einzigen Tisch im Zimmer. Für ein Appartement in dieser vollmundig Seniorenresidenz getauften Einrichtung ist der Raum sehr klein und dank der eigenen Möbel, die Oma beim Einzug vor fünf Jahren mitbringen durfte, arg beengt.
„Bali? Wer soll das sein?“
„Mbali“, verbessere ich. „Das heißt ‚Blume‘. Früher hieß sie Fleur, und damals in der Grundschule haben wir sie immer Fleurop genannt, weil …“
„… weil ihre Mutter eine Gärtnerei betrieb.“
Ich gucke erstaunt. „Das weißt du noch?“
„Junger Mann!“ Ein strenger Blick. „Dir sollte klar sein, dass deine Großmutter über ein sehr gutes Gedächtnis verfügt!“
„Sicher doch, Großmutter“, beeile ich mich zu sagen – diese Bezeichnung findet sie für eine Dame und Stadtdirektorenwitwe angemessener als ein schlichtes ‚Oma‘. Albern, aber bitte:
Wenn ich ihr damit einen Gefallen tun kann …
„Und dass diese selbstbewusste Göre unbedingt bei eurem letzten Krippenspiel die Maria geben wollte, weiß ich ebenso“, schiebt Großmutter nach.
„Das war in der vierten Klasse“, sage ich, „ist mehr als zehn Jahre her …“
„Dreizehn, um genau zu sein“, stellt Großmutter fest. Geistig ist sie absolut auf der Höhe.

Das Krippenspiel.
Obwohl die D-Wörter ‚Diskrimination‘ und ‚Diversität‘, falls damals überhaupt schon aktuell, uns Kindern jedenfalls absolut unbekannt waren, hatte Fleurop eine Diskussion über die Rollenbesetzung vom Zaun gebrochen: Es gäbe keine Vorschrift, dass die schöne Iris wie in den Jahren zuvor die Maria spielen müsste, argumentierte sie, denn ob die Gottesmutter hellhäutig gewesen sei, wüsste niemand; ganz sicher jedenfalls dürfte sie nicht blond gewesen sein, und sie – also Fleur – nur wegen der afrikanischen Wurzeln immer auf den Mohrenkönig festzulegen, wäre ein blödes Klischee und außerdem totlangweilig.
Lehrer Weise hatte den aufkeimenden Streit mit einem Kompromiss abgewürgt: Iris und Fleur durften in je zwei der insgesamt vier Vorstellungen die Maria sein. Abwechselnd.
So weit, so gut. Mir war’s gleich. Interessanter fand ich die Frage, ob Fleur es schaffen würde, ihre unglaubliche Fülle wilder Afro-Locken unter ein weißes Kopftuch zu zwängen, das laut Schultradition zum Marienkostüm gehörte. Sie schaffte es irgendwie – wie sie es auch schaffte, als Gottesmutter eine Negerpuppe (damals war der Begriff weder anstößig noch sanktioniert) in ihre Krippe zu legen, obwohl ein Großteil des Publikums das als skandalös empfand.

Großmutter deutet auf meinen Blumentopf.
„Hinter dieser Verpackung verbirgt sich doch hoffentlich kein Christstern?“
„Natürlich nicht“, sage ich. „Dass du diese Dinger hasst, ist allgemein bekannt.“
Vorsichtig streife ich das Einwickelpapier ab.
„Eine Zimmertanne“, stellt Großmutter fest.
„Genau“, nicke ich. „Korrekt: Araucaria Heterophylla. Sagt Mbali. Mbali hilft dieses Jahr an den Adventswochenenden im elterlichen Geschäft aus. Du, ich war total überrascht, sie wieder mal zu treffen. Seit sie so ziemlich in der People-Of-Colour-Community aufgeht, haben wir uns aus den Augen verloren. Leider. Bestimmt hast du sie in den letzten Jahren häufiger zu Gesicht bekommen als ich, weil …“
„… weil sie hier ein Praktikum gemacht hat“, sagt Großmutter, „genau. Nach dem Abitur.
Sie hat ein paar Mal meine Langeweile zu bekämpfen versucht und absichtlich bei Mühle oder Rommee gegen mich alte Frau verloren. Bemüht war sie und eigentlich ganz nett. Schade, dass sie nicht geblieben ist. Aber ich verstehe das. Ein paar älteren Herren war sie wohl ein Dorn im Auge. Nicht deutsch genug …“
„Ich weiß“, sage ich. „Sie hat es erzählt. Jetzt studiert sie in Venlo, irgendwas mit Wirtschaft, statt sich von ewig Gestrigen schikanieren zu lassen. Besser so. Wie auch immer: Sie hat mich vorhin beraten. Glaubte, diese Araucaria dingsda sei genau das Richtige für deine Fensterbank. Hat mir auch gleich den passenden Übertopf dazu herausgesucht.“
„Der ist knallbunt“, meint Großmutter kritisch.
„Farbenfroh“, korrigiere ich. „Afrikanisch halt. Mbalis Geschmack. Aber die kleine Krippe,
die Papa und ich vor Jahren für dich gebastelt haben, die ist genauso knallig, oder? Du hast sie doch nicht etwa in der Zwischenzeit weggegeben?“
„Natürlich nicht.“ Großmutter stemmt sich mit Mühe aus ihrem Fernsehsessel und zieht den Rollator heran. „Wenn du mich für ein paar Minuten entschuldigen würdest, Marius: Ich muss dringend ins Bad. Vielleicht baust du solange schon mal die Krippe auf. Sie liegt im Sekretär, mittlere Schublade.“
„Kein Problem.“
Die Sache ist schnell erledigt, denn mein Vater und ich hatten uns bei der Produktion auf wenige Figuren beschränkt: die Kernfamilie – außer Gottvater natürlich. Kein Engel, keine Könige, nur ein einzelner Hirte, und die Tiere – Esel, Ochs und Schaf – sehen ein wenig aus wie Mutanten. Als Stall dient ein mit trockenen Weizenhalmen beklebter Schuhkarton,
den ich von innen schwarz angemalt und mit einem Glitzerstern dekoriert hatte.
Ich bin gerade fertig, da rauscht die Toilettenspülung, und wenig später steht Großmutter neben mir.
„Doch“, sagt sie, „Übertopf und Krippe passen erstaunlich gut zusammen. Im Sekretär müsste eine Schachtel mit kleinen Christbaumkugeln sein. Wenn du die vielleicht noch …“
Auch das wird gemacht und schon sieht die winzige Zimmertanne verdammt heilig aus.
„Sehr schön.“ Großmutter sinkt erschöpft in ihren Sessel. „Danke. Damit bist du für heute entlassen, Marius. Wir sehen uns am ersten Feiertag bei deinen Eltern, richtig?“
„Genau“, nicke ich. „Wahrscheinlich gibt es wieder Lachs an Wildreis und buntem Salat. Same procedure as every year …“
„Traditionen müssen nicht schlecht sein“, sagt Großmutter, „überhaupt nicht. Übrigens:
Falls du in der nächsten Zeit Fleur – pardon: Mbali – siehst: Bedank‘ dich bitte in meinem Namen.“
Ich nicke. Dass wir uns am Abend zum Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt treffen werden, verschweige ich – auch wenn es mir wegen der Vorfreude schwerfällt.
„Ciao, Großmutter.“ Ich wende mich zum Gehen. Habe gerade die Türklinke in der Hand,
da bremst mich ein „Marius?“
Ich bleibe stehen. „Ja?“
„Du wirst das nicht erinnern, aber als du klein warst und deinen Namen noch nicht richtig aussprechen konntest, hast du dich selbst immer Mbabus genannt. Frag‘ deine Mutter, wenn du mir nicht glaubst. Mbali und Mbabus – auch das passt gut zusammen, finde ich …“
„Sprachlich auf jeden Fall“, sage ich und mache, dass ich zügig davonkomme.