Ein besonders schönes Weihnachtsfest - Rosemarie Simanowski
Ein besonders schönes Weihnachtsfest
Rosemarie Simanowski
Der Zauber, das Geheimnisvolle, das ‚nicht abwarten können ‘, all das ist Vergangenheit. Aber manche Erinnerungen an Weihnachten bleiben für immer.
Der Zweite Weltkrieg war vorüber, und ich könnte eine lange Geschichte darüber schreiben, was wir hatten, gern gehabt hätten und dann nur bekommen haben; zum Beispiel wurde derselbe Kleiderstoff vom vorigen Jahr noch einmal eingepackt und unter den Tannenbaum gelegt. Ich tat dann so, als wäre die Freude groß. Aber wirklich gefreut habe ich mich über ganz andere Dinge. Meine Mutter, eine Kriegerwitwe, legte Wert auf einen grade gewachsenen Tannenbaum mit festen Zweigen. Dieser wurde am Tag vor dem Heiligen
Abend in die Küche gestellt, denn ein Wohnzimmer hatten wir nicht. Die Zweige wurden mit gekochtem Mehlkleister eingestrichen und danach mit grobem Viehsalz bestreut. Wir hatten immer einen ‚edlen, stilvollen ‘ Baum mit weißen Kerzen, silbernen Kugeln und Lametta. Es sei denn, wir konnten wegen mangelndem Holzmaterial nicht genug heizen, denn dann schmolz in der feuchten Wohnungsluft die ganze Pracht dahin.
Für uns Kinder, das heißt mich und meine drei Cousi-nen, begann der Heilige Abend jeweils mit dem drei-einhalb Kilometer langen Weg nach Fürstenau zur St. Georgs-Kirche. Und diese Wanderung – trotz Regen und Sturm, Schnee oder Eiseskälte – war schön! Wenn wir ankamen, war es schon fast dunkel. Durch die Turmtür traten wir ein, und zwei gewaltige Tannenbäume am Altar strahlten uns entgegen. Egal, wie früh wir auch da waren, die Kirche war stets überfüllt. Einen kurzen Blick sandten wir dann zur sogenannten ‚Lonner Bank‘ hinüber, die früher ein-mal für das Personal von Gut Lonne bestimmt war. Hier saßen wir als Lonnerbecker nämlich immer, wenn die Kirche nicht zu voll war. Vor dieser Bank stand früher ein rundum geschlossener Kirchensitz mit Türen für zwei Personen.
Dicht aneinandergedrängt standen wir Kinder im Mittelgang und hörten die Weihnachtspredigt.
Und nun kommt ein Weihnachtsjahr, das ich nie ver-gessen werde: Von der Empore erklang ein Kinder-chor mit dem Lied:
„Vom Himmel in die tiefsten Klüfte
ein milder Stern herniederlacht;
vom Tannenwalde steigen Düfte
und hauchen durch die Winterlüfte,
und kerzenhelle wird die Nacht.
Mir ist das Herz so froh erschrocken,
das ist die liebe Weihnachtszeit!
Ich höre fernher Kirchenglocken
mich lieblich, heimatlich verlocken
in märchenstille Herrlichkeit.
Ein frommer Zauber hält mich wieder,
anbetend, staunend muss ich stehn;
es fällt auf meine Augenlider
ein gold ’ner Kindertraum hernieder,
ich fühl ’s, ein Wunder ist geschehn.“
Es handelt sich um ein vertontes Gedicht von Theodor Storm.
Ergriffen lauschten wir den Kinderstimmen. Die Glocken läuteten, und wir machten uns auf der alten Straße, ehemals Lonner Straße, jetzt Haselünner Straße, auf den Heimweg. Die Bläser auf dem Kirchturm spielten Weihnachtslieder. Fast bis zum Hamberg hörten wir die Klänge.
Unterwegs versuchten wir, den Text zu deklamieren, die eingängigen Worte bekamen wir schnell zusam-men. Die Melodie „saß“ nach der dritten Strophe schon. Und dann ging ’s schnell zur Bescherung und zu Kartoffelsalat mit Heißwürstchen.
Am 1. Feiertag trafen sich – wie jedes Jahr – die Familien bei unserer Oma in der ‚besten Stoben‘. Die Männer spielten in der Küche Karten, tranken ein Gläschen Kartoffelschnaps und rauchten ‚Eigenheimer-Zigarren‘ und ‚Schwatten Krusen‘. Die Frauen saßen in wohliger Wärme am schwarzen, hohen, ei-sernen Ofen, und wir Kinder spielten ‚up de Deelen‘, links ein Pferd und die Kühe, rechts Schweine und landwirtschaftliches Gerät. Kalt war es hier nicht, da über den Kühen das Heu gelagert wurde und ganz oben, auf dem Balken, das Stroh. Wir übten das Walzertanzen, indem eine von uns auf dem Kamm mit Pergamentpapier die Melodie ‚Lustig ist das Zigeu-nerleben‘ blies, und die anderen sangen, sich anfass-ten und mit Riesenschritten über die Diele walzten. An der Dielentür machten wir halt und liefen bis zum Anfang der Diele zurück, denn im Kreis zu tanzen, das schafften wir nicht!
Gegen Abend wurden die Kerzen angezündet, und wir Kinder mussten und durften alle Weihnachtslie-der singen, die wir kannten. Zweistimmig! Und dreistimmig sangen wir das Lied ‚Großer Gott, wir loben Dich‘. Dieses Lied hatten wir anlässlich des jährlichen Schülertheaters zu Weihnachten eingeübt. Es folgte unsere Uraufführung des erst gestern gehörten Weihnachtsliedes, alle waren begeistert und unsere Oma tief gerührt.
Nach den Weihnachtsferien gingen wir wieder in un-sere einklassige Volksschule in Lonnerbecke mit am 15. Juli 1949 insgesamt 55 Kindern in einem 35 Quadratmeter messenden Raum. Unser lieber, verehrter Lehrer Beckmann erteilte uns Musikunterricht. Er spielte Geige, und wir lernten pro Woche zwei neue Lieder mit Melodie und Text, je ein Volkslied und ein Kirchenlied, da er auch für den Religionsunterricht zuständig war. Wir sangen ihm nun aus Begeisterung freiwillig – in der damaligen Zeit ein Mutbeweis – unser neues, ihm unbekanntes Lied vor. Er war sehr erstaunt, freute sich über uns, und wir vier bekamen eine gute Note!
Vielleicht ist es ja ein Zeichen des ‚Älterwerdens‘, wenn man so in der Vergangenheit hängt. Aber herr-lich war es doch, und Weihnachten ist nie wieder so schön und wichtig geworden wie damals in der ar-men, doch wunderbaren Kinderzeit!