Zum Roman von Ingrid Ihben - Leevkes Geheimnis

Mit diesem Roman möchte ich nicht nur unterhalten, ich möchte auch denen eine Stimme geben, die in meiner Heimatstadt Emden dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, sowohl den Bürger:innen der Stadt, als auch den vielen Zwangsarbeitern aus fernen Ländern.

Die Menschen in meinem Roman habe ich frei erfunden, Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären zufällig, mit Ausnahme der fünf ukrainischen Zwangsarbeiter, die in Emden im Jahr 1944 getötet wurden. Diese Informationen habe ich aus Zeitzeugenberichten entnommen, ebenso die Bombardierung Emdens am 6. September 1944.

Meine Eltern erinnerten sich noch genau an den Tag, als Emden nahezu zerstört wurde. Mein Vater arbeitete zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Stadt auf dem Feld. Er musste hilflos und voller Angst mit ansehen, wie seine Heimatstadt, in der sich seine betagten Eltern, seine vier Schwestern und deren Kinder aufhielten, nach einem schweren Bombenangriff na-hezu in Schutt und Asche gelegt wurde. Wie durch ein Wunder hat die Familie das Bombardement über-lebt. Als Siebzehnjähriger wurde er noch für das letzte Kriegsjahr als Soldat eingezogen. Eines Nachts überhörte er einen Einsatzbefehl, und das hat ihm vermutlich das Leben gerettet, denn seine Kamera-den, ebenso jung und unerfahren wie er, fanden in dieser Nacht den Tod. Das waren auch die einzigen Begebenheiten, die mein Vater uns aus dieser Zeit erzählte.
Meine Mutter war bei Kriegsbeginn erst neun Jahre alt. Ihr Elternhaus wurde in den Kriegsjahren zweimal zerbombt. Über ihre Kindheit in diesen Zeiten hat sie lediglich ein paar Andeutungen gemacht, die jedes Mal damit endeten, dass ich mich glücklich schätzen könne, nie einen Krieg erlebt zu haben. Alles andere behielten meine Eltern für sich, und wir, meine beiden Brüder und ich, trauten uns auch nicht, danach zu fragen. Es schien, als gäbe es da eine unsichtbare Mauer, die wir nicht durchbrechen konnten und die uns allen scheinbar Schutz bot.
Jetzt ist es mir nicht mehr möglich, sie zu fragen, und doch, je älter ich werde, desto mehr bin ich an ihrer Geschichte, die gleichzeitig mit meiner eigenen und mit meiner Geburtsstadt Emden verwoben ist, interessiert.
Die Aussage meiner Mutter, dass ich nie einen Krieg erleben musste – ich bin Jahrgang 1956 – ist unbestritten. Dennoch weiß man heute, dass traumatische und belastende Erfahrungen, die nicht aufgearbeitet werden, auf die nächste Generation übertragen wer-den können und oft zu einer emotionalen Sprachlosigkeit in den Familien führt. Über Alltagsthemen wird dann gesprochen, nicht aber über Gefühle. Un-fähig, Zuneigung zu zeigen, gab und gibt es bei vielen dieser vom Krieg traumatisierten Menschen statt einer zärtlichen Umarmung andere Zuwendungen: ein Lieblingsessen zum Geburtstag oder kleine Geschenke. Krankheiten, Schmerzen, Ängste, selbst Zärtlichkeiten werden als Schwäche angesehen und nach Möglichkeit verdrängt und tabuisiert. Meine Recherche zu dem Roman führte dazu, dass ich auch der Gefühlswelt meiner Eltern ein Stück nähergekommen bin.