Juliette C. Gueye, Schlüsselerlebnisse
Juliette C. Gueye, 18 Jahre, Heidelberg
Schlüsselerlebnisse
Und nun versteht sie. Es ist nicht so, wie sie sagen. Was sie, die Menschen, mit denen sie gesprochen hat, jene, die ver-suchten, sie auf das vorzubereiten, was nun kommt, sagten, ist falsch. Oder zumindest nicht ganz richtig.
Denn ein Missverständnis, ein Detail eigentlich, sorgt dafür, dass alles anders ist. Anders als erwartet.
Denn sie alle sprechen von offenen Türen. Die Menschen, mit denen sie gesprochen hat, jene, die versuchten, sie auf das vorzubereiten, was nun kommt, sagten:
„Alle Türen stehen dir offen. Du brauchst nur hindurchzuge-hen.“
Und hier liegt ihr Fehler. Ein Detail, eigentlich, doch es än-dert alles.
Denn die besagten Türen sind nicht offen. Sie haben sich nicht für sie geöffnet.
Nein, sie hat lediglich die Schlüssel bekommen.
Und hier liegt der Unterschied: Die Fähigkeit, eine Tür zu öffnen, bedeutet keine offene Tür.
Denn nun liegt vor einer offenen Tür eine Entscheidung. Die Entscheidung, sie zu öffnen; den richtigen Schlüssel zu su-chen, hinzugehen und das schwere Holz zu bewegen. Es ist kein einfaches ‚Hindurchgehen‘. Es ist ein kräftezehrender, verbindlicher Prozess, ein Aufwand. Und nun versteht sie, die Entscheidung ist schwierig.
Denn die Fähigkeit, eine Tür zu öffnen, bedeutet keine offe-ne Tür. Eine offene Tür impliziert die Fähigkeit, hinter sie zu schauen. Sie impliziert eine informierte Entscheidung, ge-troffen in dem Wissen, was kommt. Doch nun versteht sie, sie steht nicht in einem Raum voller offener Türen. Nein, sie steht vor massivem, blickdichtem Holz. Die Schüssel in der Hand. Die Entscheidung eine angsteinflößende Mischung aus Verbindlichkeit und Unwissenheit. Unsicherheit.
Und es ist ebendiese Entscheidung, die den menschlichen Drang hervorruft, zu wissen. Zu wissen was kommt. Kris-tallkugeln, Kaffeesatz, Kartenlesen – der Versuch, durch das Schlüsselloch zu schauen. Angetrieben von der Angst, den falschen Schlüssel zu wählen.
‚Alle Türen stehen dir offen. Du brauchst nur hindurchzuge-hen‘ übergeht Nuancen. Es übergeht den Prozess der Ent-scheidung. Die Schwierigkeit, die Unwissenheit, die Ver-bindlichkeit.
Die Angst.
Sie lächelt.
Denn sie freut sich. Sie freut sich auf das, was kommt. Sie freut sich über ihre Schlüssel.
Was bisher unerwähnt blieb, ist der Verdienst. Denn vor der offenen Tür liegt eine Entscheidung, und vor der Entschei-dung liegt der Verdienst. Die Arbeit, die Mühe, belohnt mit Möglichkeiten, Schlüsseln. Sie hat es sich verdient zu wäh-len. Und so schwierig die Wahl, die Entscheidung auch sein mag, es ist ihre. Der Schlüssel zu dem Leben, das sie sich wünscht, liegt in ihrer Hand