Hannah Stehling - 24/7 – 83.239.999
Hannah Stehling, 16 Jahre, Mainz
24/7 – 83.239.999
Montag
7.30
Sie steht auf, schwingt die Beine aus dem Bett. Trägt ihren Körper hinüber zum Fenster und lässt ihre Hände an dem Rollladen ziehen, bis dass die Sonnenstrahlen direkt in ihr Auge blenden und sie loslässt.
7.45
Sie sitzt mit exakt einer Tasse Zitronenmelisse-Minze Tee in der Anti-Stress-Tasse inklusive Faultier auf ihrem 2 m2-Balkon und isst mit 8 Bissen ihr Kirschmarmeladenvollkornbrot mit einer hauchdünnen Schicht pflanzlicher Margarine darunter. Sie greift nach der bereitliegenden Tablettenpackung und drückt eine gelb-weiße Kapsel heraus, spült nach mit Tee.
9.00
Sie ist auf der Arbeit. Sie arbeitet.
9.30
Sie bringt dem Chef seinen täglichen Kaffee. Oder Latte, wie man das heute nennt. Doppelt, mit Mandelmilch und einem Teelöffel Zucker.
12.00
Sie ist müde
13.00
Sie ist sehr müde.
14.00
Sie holt sich ein Clubsandwich ohne Essiggurken am Firmenimbisswagen. Ohne Essiggurken, aber scharf. Sie mag scharf, auch wenn viele das nicht wissen. Der lodernde Stich auf der Zunge, beinahe Schmerz, erinnert sie an ihre Emoti-onen.
14.30
Sie arbeitet weiter.
17.00
Sie hat Feierabend.
17.00
Sie arbeitet weiter. Überstunden. Endlose, unendlich weite unbezahlte Überstunden, die sie doch alle leisten müssen, wenn sie am Ball bleiben wollen und unsichtbar unter dem Radar der Mitarbeiterschar abtauchen wollen.
Sie hat keine Lust darauf.
Sie arbeitet weiter.
19.00
Sie geht mit dem Hund raus. Nicht ihr eigener, der des schrulligen alten Nachbarn, der immer mürrisch ist und nicht mehr viel sagt und auch nicht mehr wirklich laufen kann, weswegen die Gesellschaft für ihn gesellschaftliches Mitleid verlangt, ein alter, des Lebens gebeutelter Bär, der halt jetzt für alles Hilfe braucht, wo immer auch her.
19.30
Sie und der Hund stehen vor der fünften Mülltonne im Park unter der letzten lichtenden Straßenlaterne, die erst im Sommer vom Dienste befreit und doch auch jetzt im Spät-herbst bei Dämmerung und Finsternis nicht in Betrieb ist. Der Hund ist nicht hübsch und auch nicht charakterlich süß. Er steht an der Mülltonne und hebt das Bein und Sabber tropft dabei aus seinen Lefzen und man könnte auch denken „Armes Tier“, aber sie hat aufgehört, das zu denken, weil sie ja doch daran nicht viel mehr ändern kann.
19.45
Sie gibt den Hund zurück.
20.00
Sie telefoniert mit der Mutter und versichert wie jeden Abend, dass alles in Ordnung ist und im Clubsandwich keine Salmonellen waren, weil die sind ja nur in Ü-Eiern gefunden worden, und die hat sie nicht mehr gegessen, seit sie 12 war, bei Oma, und das ist sowieso von Kindern produziert und sowieso Schokolade und Schokolade ja sowieso ungesund ist.
21.00
Sie geht kurz ins Bad. Nur kurz. Lange Aufenthalte im Bad zeugen von Eitelkeit und das hat sie nicht. Sie braucht sich nicht mit Mizellenreinigungswasser abzureiben und zu rei-nigen, ihr reichen Wasser und die gute alte Zahnbürste, die sie zwischen die Beißer schiebt und auf jeder Seite 2,5 Minu-ten lang mit gezielter Bewegung von Rot nach Weiß schrubbt.
21.30
Sie liegt im Bett und starrt an die dunkle Decke. Morgen wieder das Gleiche, denkt sie und weiß sie.
Vielleicht schlaf ich mal aus, vielleicht nehm ich mir mal frei, vielleicht koche ich mittags mal selbst. Und sie weiß, dass sie es nicht tun wird und wünscht sich, nur einmal mutig zu sein und ein winzig kleines Guckloch zu bohren in die Wand ihres ausgebrühten Lebens.
Und sie weiß, dass sie es nicht tun wird, denn sie hat Angst vor den Träumen und den Wünschen und der Veränderung, die da draußen auf sie warten. Denn dann weiß sie, sie müsste den ganzen Boden der Kaffeetasse einschlagen, weil die Sehnsucht ein bittersüßes Gift ist, das sich in alle mögli-chen Gliedmaßen bohrt.
Damit die ganze versiffte Brühe ihres Lebens stinkend und bitter und braun herausfließen kann, um einen Fleck auf irgendeiner weißen Tischdecke zu hinterlassen.
Und dann kann sie neuen Kaffee machen. Oder vielleicht auch Tee. Zitronenmelisse-Minze schwebt ihr da vor.
Und sie weiß, dass sie es nicht tun wird. Denn morgen klin-gelt um 8. 29 der Wecker. Und in vier Minuten schlägt die Kirche drei Straßen weiter schon zehn.
22.00
Sie schläft.